Mittelwertgleichung und Mittelwertungleichung
In der Situation des Satzes ist der Funktionswert f (z), wie die Integralformel zeigt, nicht nur durch die Werte von f auf der Kreislinie ∂U festgelegt, sondern er erscheint durch das Integral als ein Mittel dieser Werte. Genauer gilt:
Korollar (Mittelwertgleichung und Mittelwertungleichung)
Seien f : P → ℂ holomorph und U = Ur(p) ⊂ ⊂ P. Dann gilt:
(a) | f (p) = 12π ∫2π0 f(p + r exp(i t)) dt,(Mittelwertgleichung) |
(b) | |f (p)| ≤ ∥ f ∥∂U.(Mittelwertungleichung) |
Beweis
Mit z = p und dem Kreisweg γ : [ 0, 2π ] → ℂ mit γ(t) = p + r exp(it) gilt:
2π i f (p) | = ∫∂U f (ζ)ζ − p dζ = ∫2π0 f (p + r exp(it))p + r exp(i t) − p i r exp(i t) dt |
= i ∫2π0 f(p + r exp(it)) dt. |
Dies zeigt (a). Die Ungleichung (b) folgt aus der Standardabschätzung des Integrals in (a) oder auch aus der Cauchy-Abschätzung für den Mittelpunktsfall z = p (mit dz = r).
Für r = 1 ist f (p) das tatsächliche Mittel der Werte auf dem Kreis. Allgemein ist f (p)/r dieses Mittel. Die Werte des Integrals sind unabhängig vom Radius r.
Die Mittelwertungleichung ist ein Spezialfall des Maximumsprinzips, das wir bei der Diskussion der harmonischen Funktionen kennengelernt haben. Dort gibt es ebenfalls ein Analogon zur Integralformel von Cauchy, das Mittelwertprinzip für harmonische Funktionen. Wir verweisen den Leser hierzu auf die Literatur.
Als eine einfache, aber bemerkenswerte Anwendung der Mittelwertungleichung zeigen wir:
Satz (Mittelwert-Nullstellensatz)
Seien f : P → ℂ holomorph und U = Ur(p) ⊂ ⊂ P. Weiter gelte:
|f (p)| < infz ∈ ∂U |f (z)|.
Dann besitzt f eine Nullstelle in U = Ur(p).
Beweis
Annahme nicht. Nach Voraussetzung hat f keine Nullstellen auf ∂ U. Da ∂U kompakt und f stetig ist, gibt es eine offene Umgebung V ⊆ P von cl(U), sodass f auf V nullstellenfrei ist. Dann ist g : V → ℂ mit
g(z) = 1/f (z) für alle z ∈ V
holomorph. Die Mittelwertungleichung angewendet auf g liefert :
|f (p)| = 1|g(p)| ≥ 1∥ g ∥∂U = 1supz ∈ ∂U |1/f (z)| = infz ∈ ∂U |f (z)|,
im Widerspruch zur Voraussetzung.
Korollar (Nullstellensatz für unbeschränkte ganze Funktionen)
Sei f : ℂ → ℂ ganz mit limz → ∞ |f (z)| = ∞. Dann besitzt f eine Nullstelle.
Beweis
Aufgrund der Limes-Voraussetzung gibt es ein r > 0 mit
|f (0)| < infz ∈ Kr |f (z)| (mit dem Kreis Kr = ∂Ur(0)).
Damit ist der Nullstellensatz anwendbar.
Die Voraussetzung des Korollars ist für Polynome von Grad größergleich 1 erfüllt. Wir erhalten also:
Korollar (Fundamentalsatz der Algebra)
Jedes nicht konstante komplexe Polynom besitzt eine Nullstelle.
Wer einen möglichst kurzen Beweis des Fundamentalsatzes möchte, kann das zweite Korollar direkt beweisen. Die Konstruktion der offenen Menge V entfällt.
In der Geschichte der komplexen Zahlen spielt der Wunsch nach der Lösbarkeit polynomieller Gleichungen eine treibende Rolle. In den komplexen Zahlen ist dieser Wunsch erfüllt: Jedes nicht konstante komplexe Polynom besitzt eine Nullstelle und zerfällt damit aus rein algebraischen Gründen in Linearfaktoren. Die komplexen Polynome sind genau die Produkte von Geraden. Die ersten Beweise stammen von Gauß, benötigt werden bis heute analytische Ergebnisse wie etwa der Extremwertsatz von Weierstraß über die Annahme von Minimum und Maximum. Wir geben später einen weiteren (verwandten) Beweis mit Hilfe des Satzes von Liouville.
Die Mittelwertungleichung ist richtig stark. Wir werden sie mit den Cauchy-Ungleichungen für die Koeffizienten einer Potenzreihenentwicklung gleich noch verallgemeinern. Ein Höhepunkt jagt den anderen, denn die Bühne betritt nun: