Die Cauchy-Integralformeln für die Ableitungen

 Setzen wir die Taylor-Formel an = f (n)(p)/n! in den Entwicklungssatz ein, so erhalten wir durch einen Kreiswechsel eine Formel für f (n)(z):

Satz (Integralformeln von Cauchy für die Ableitungen)

Seien f : P   holomorph, p  ∈  P und U = Ur(p) ⊂ ⊂ P. Dann gilt für alle n und z  ∈  U:

(a)

f (n)(z)  =  n!2πi ∂U f (ζ)(ζ − z)n + 1 dζ,(Integralformel)

(b)

|f (n)(z)|  ≤  n! r ∥ f ∥∂Udzn + 1 ,(Abschätzung)

wobei wieder dz = infζ  ∈  ∂U |ζ − z| = r − |z − p|.

Beweis

Sei z  ∈  U. Dann gibt es ein ε > 0 und ein r < R mit Uε(z) ⊆ Ur(p). Wir setzen V = Uε(z). Dann gilt für alle n:

f (n)(z)n! =  12π i ∂V f (ζ)(ζ − z)n + 1
=  12π i ∂U f (ζ)(ζ − z)n + 1 dζ.

Dabei wenden wir zuerst die Taylor-Formel für die Koeffizienten und die Koeffizientenformel des Entwicklungssatzes an, mit dem Entwicklungspunkt z statt p. Der zweite Schritt ist der übliche Kreiswechsel.

Die Standardabschätzung liefert (b) mit der Weglänge 2π r.

 Die Cauchy-Abschätzungen für die Ableitungen f (n) verallgemeinern die Mittelwertungleichung.

Erste Folgerungen

 Der Entwicklungssatz hat zahlreiche wichtige Sätze in seinem Gefolge. Wir geben hier zunächst drei einfache Beispiele. Viele weitere Anwendungen werden wir im folgenden Kapitel kennenlernen.

 Die erste einfache, aber ebenso starke Folgerung aus dem Entwicklungssatz ist die bereits angekündigte automatische mehrfache Differenzierbarkeit:

Korollar (Glattheit holomorpher Funktionen)

Sei f : P   holomorph. Dann ist f glatt (beliebig oft differenzierbar).

Beweis

Die Funktion f ist lokal als Potenzreihe darstellbar und Potenzreihen können beliebig oft gliedweise differenziert werden.

 Die Holomorphie erzwingt die beliebige Differenzierbarkeit. Der Leser mag versuchen, mit Hilfe einer elementaren Charakterisierung der Holomorphie zu zeigen, dass eine holomorphe Funktion f : P   eine stetige Ableitung f ′ besitzt. Stärker (und induktiv äquivalent zur Glattheit) wäre, dass f ′ nicht nur stetig, sondern sogar wieder holomorph ist. Es scheint, dass die Theorie erst relativ weit entwickelt werden muss, um diese Ergebnisse nachweisen zu können.

 In der anderen Richtung erhalten wir:

Korollar (Existenz von lokalen Stammfunktionen)

Sei f : P   holomorph, und sei UR(p) ⊆ P. Dann besitzt f : UR(p)   eine Stammfunktion.

Beweis

Die Funktion f ist auf UR(p) als Potenzreihe darstellbar und Potenzreihen können gliedweise integriert werden.

 Die lokale Existenz von Stammfunktionen hatten wir bereits gezeigt, sodass das zweite Korollar unter „wir können neu beweisen“ fällt. Es zeigt aber, welche Kraft und Klarheit in der Potenzreihenentwicklung steckt.

 Mit Hilfe der automatischen mehrfachen Differenzierbarkeit erhalten wir folgende Umkehrung des Lemmas von Goursat-Pringsheim:

Satz (Satz von Morera)

Sei f : P   stetig. Für jedes Dreieck D mit D+ ⊆ P gelte I(f, D) = 0. Dann ist f holomorph.

Beweis

Sei p  ∈  P. Dann gibt es ein ε > 0 mit U = Uε(p) ⊆ P. Aus der Voraussetzung über Dreieckswege folgt wie früher, dass die Funktion F : U   mit

F(z)  =  I(f, [ p, z ])  für alle z  ∈  

wohldefiniert und eine Stammfunktion von f ist. Da F holomorph ist, existiert F″ (und allgemeiner F(k) für alle k). Dann gilt aber f ′ = F″, sodass f holomorph ist.

 Durch Kontraposition erhalten wir: Ist f : P   stetig und nicht holomorph, so gibt es einen Dreiecksweg mit einem nicht verschwindenden Integral über f.