Ablesen des Konvergenzradius
Die maximale Entwicklung bis zum Rand des Definitionsbereichs einer holomorphen Funktion f : P → ℂ erlaubt es oft, den Konvergenzradius R einer Potenzreihendarstellung f (z) = ∑n an (z − p)n sofort anzugeben: Wir messen den Abstand von p bis zu einer nicht holomorph fortsetzbaren Stelle am Rand von P (etwa einer Polstelle von f oder f ′).
Beispiel
Sei sqrt : ℂ− → ℂ. Die unüberwindbare Stelle ist der Nullpunkt. Für p = 1 gilt R = 1 (Abstand zur Null). Für p = −1 + i gilt R = (Abstand zur Null, nicht zu −1). Die Potenzreihenentwicklung überlappt hier den Schnitt ] −∞, 0 ] und liefert einen (eindeutigen) Ausschnitt einer Wurzelfunktion mit einem Schnitt, der nicht durch den Konvergenzkreis läuft.
Die Berechnung von R mit Hilfe der Formeln von Cauchy-Hadamard und Euler kann also oft entfallen. Stärker kann der abgelesene Radius zur Identifikation der Grenzwerte in diesem Formeln verwendet werden.
Beispiel: Bernoulli-Zahlen
Sei A = { k 2 π i | k ∈ ℤ* }. Wir betrachten die im Nullpunkt stetig fortgesetzte Funktion f : ℂ − A → ℂ mit
f (z) = zez − 1 = 11 + z/2 + z2/6 + … + zn/(n + 1)! + …
Die Menge A ist die Menge der Polstellen von f. Die Funktion lässt sich um p = 0 als Potenzreihe mit Konvergenzradius R darstellen. Wir schreiben
f (z) = ∑n Bn/n! zn für alle z ∈ UR(0).
Die dabei auftretenden Zahlen Bn, n ≥ 0, heißen die Bernoulli-Zahlen. Nach der Taylor-Formel für die Koeffizienten gilt Bn = f (n)(0) für alle n.
Die aus der Sicht der Null nächstgelegenen Pole ± 2π i zeigen, dass R = 2π. Der Konvergenzradius R ist mit Hilfe der Formel von Cauchy-Hadamard nicht leicht zu berechnen. Umgekehrt erhalten wir nun
(limsupn n)−1 = 2π.
Die ersten Bernoulli-Zahlen berechnen sich zu:
B0 = 1, B1 = − 12, B2 = 16, B3 = 0, B4 = − 130, B5 = 0,
B6 = 142, B7 = 0, B8 = − 130, B9 = 0, B10 = 566.
Die Entwicklung von f im Nullpunkt beginnt also mit
f (z) = 1 − z2 + z212 − z4720 + z630240 − z81209600 + …
Die Bernoulli-Zahlen spielen in der analytischen Zahlentheorie eine wichtige Rolle. Man kann folgende Rekursionsformel zeigen:
B0 = 1, Bn = − 1n + 1 ∑k < n Bk für alle n > 1.
Weiter kann man zeigen, dass sich mit Hilfe der Bernoulli-Zahlen die Werte der Zeta-Funktion für alle geraden Zahlen berechnen lassen:
∑n ≥ 1 1n2k = ζ(2k) = (2π)2k2 (2k)! |B2k| für alle n ≥ 1.
Damit erhalten wir insbesondere
ζ(2) = π26, ζ(4) = π490.
Die Funktion f (z) = z/(ez − 1) (stetig fortgesetzt im Nullpunkt).
Geometrische Beschreibung der Holomorphie
Durch die Potenzreihenentwicklung können wir die lokalen Abbildungseigenschaften einer holomorphen Funktion, wie sie sich in unseren Farbplot zeigen, vollständig beschreiben. Seien hierzu G ein Gebiet, f : G → ℂ holomorph, p ∈ G und
f (z) = ∑n an (z − p)n bei p.
Wir nehmen of(p) < ∞, da sonst einfach eine Schwarzfärbung des Gebiets G vorliegt.
Konstanter Fall
Ist a0 ≠ 0, so ist f ungefähr gleich f (p) ≠ 0 bei p. In einer Umgebung von p sehen wir also den Farbton von f (p).
Drehstreckung
Ist a0 = 0 und a1 ≠ 0 (d. h. of(p) = 1), so ist f eine Drehstreckung bei p mit dem Drehfaktor f ′(p),
f (z) = f ′(p) (z − p) + o(z − p) für z → p.
Ein Farbplot zeigt bei p einen schwarzen Punkt, der von einem vollen Farbspektrum umgeben ist. Die Grundfärbung wird bei p durch den Drehfaktor gedreht und skaliert und zusätzlich um o(z − p) stetig verbogen.
Monome
Ist a1 = … ak − 1 = 0 und ak ≠ 0 (d. h. op(f) = k), so ist f ein skaliertes Monom (z − p)k bei p,
f (z) = f (n)(p)k! (z − p)k + o((z − p)k) für z → p.
Ein Farbplot zeigt bei p einen schwarzen Punkt, der von einem k-fach durchlaufenen Farbspektrum umgeben ist. Die k-fache durch zk erzeugte Färbung wird durch ak gedreht und skaliert und zusätzlich um o((z − p)k) stetig verbogen.
Diese Eigenschaften folgen alleine aus der Potenzreihenentwicklung. Wir hätten sie für die Klasse der in Potenzreihen entwickelbaren Funktionen formulieren können, ohne den Begriff der Holomorphie zu kennen. Die verblüffende Tatsache ist, dass die Holomorphie (einfache Differenzierbarkeit) die Entwickelbarkeit (beliebige Differenzierbarkeit plus Darstellbarkeit) nach sich zieht. Geometrisch formuliert: Ist eine Funktion an jeder Stelle entweder 0 oder eine affine Drehstreckung (bis auf ein o), so ist sie an jeder Stelle eine Potenzreihe und hat daher die obigen Abbildungseigenschaften.
Stopp der Entwicklung durch singuläre Punkte
Wir präzisieren die Anschauung einer „problematischen, unüberwindlichen“ Stelle.
Definition (regulärer und singulärer Randpunkt)
Sei f : P → ℂ holomorph. Ein p ∈ ∂ P heißt regulär (für f), falls es ein holomorphes g : Uε(p) → ℂ gibt, mit g(z) = f (z) für alle z ∈ P ∩ Uε(p). Andernfalls heißt p singulär.
Auf dem Rand des Konvergenzkreises einer Potenzreihe existiert immer mindestens ein singulärer Punkt:
Satz (Existenz singulärer Punkte auf dem Rand)
Sei R > 0 der Konvergenzradius einer Potenzreihe ∑n an (z − p)n, sodass die durch durch die Reihe definierte Funktion f : UR(p) → ℂ holomorph ist. Dann gibt es ein singuläres p ∈ ∂ UR(0).
Beweis
Ein Kompaktheitsargument zeigt, dass es andernfalls ein R* > R gibt, sodass sich f zu einer holomorphen Funktion f : UR*(p) → ℂ fortsetzen lässt. Dann ist aber f auf UR*(p) als Potenzreihe (mit den gleichen Koeffizienten an) darstellbar, sodass R > R*, Widerspruch.