Der Satz von Liouville
Die Koeffizienten einer Potenzreihe ∑n an (z − p)n mit einem positiven Konvergenzradius lassen sich abschätzen durch
(+) |an| rn ≤ ∥ f ∥∂Ur(p) für alle n ∈ ℕ und alle r mit 0 < r < R.
Eine bemerkenswerte (und den Sympathiewert vielleicht stark erhöhende) Folgerung aus dieser Ungleichung ist:
Satz (Satz von Liouville)
Sei f : ℂ → ℂ holomorph. Dann gilt:
(a) | Ist f beschränkt, so ist f konstant. |
(b) | Gibt es ein k ∈ ℕ und c, s > 0 mit |f (z)| ≤ c |zk| für alle z mit |z| > s, so ist f ein Polynom mit deg(f) ≤ k. |
Beweis
Die Aussage (a) folgt aus (b) für den Fall k = 0. Es genügt also, (b) zu zeigen. Seien also k, c, s wie in (b). Da f ganz ist, gilt
f (z) = ∑n an zn für alle z ∈ ℂ
mit eindeutig bestimmten Koeffizienten an. Dann gilt für alle r > s nach der Abschätzung (+) mit dem Entwicklungspunkt p = 0:
|an| ≤ ≤ c rkrn = c rk − n.
Ist n > k, so strebt die rechte Seite gegen 0, wenn r gegen unendlich strebt. Damit gilt an = 0 für alle n > k, sodass f ein Polynom vom Grad kleinergleich k ist.
Wir können den Satz so formulieren: Unter den ganzen Funktionen wachsen nur die Polynome vom Grad kleinergleich k höchstens so wie das Monom zk (wobei wie immer die Multiplikation mit einer Konstanten c als unwesentlich für das Wachstum gilt). In O-Notation bedeutet (b), dass
f (z) = O(zn) für z → ∞.
Aus dem Satz von Liouville können wir wie schon bei der Mittelwertungleichung einen Nullstellensatz durch Übergang zu 1/f gewinnen: Hat eine ganze Funktion f keine Nullstellen, so ist 1/f ganz. Ist 1/f beschränkt, so ist 1/f und damit auch f konstant nach Liouville. Ein nützliches Kriterium hierzu ist:
Korollar (Nullstellensatz von Liouville)
Sei f : ℂ → ℂ ganz und nicht konstant. Seien ε, s > 0 mit
(+) |f (z)| ≥ ε für alle z mit |z| > s.
Dann hat f eine Nullstelle. Insbesondere gilt dies, falls limz → ∞ f (z) = ∞.
Uniforme Größe im Äußeren bedingt eine Nullstelle im Inneren.
Beweis
Annahme, f hat keine Nullstelle. Dann ist g = 1/f ganz. Wir setzen C = cl(Us(0)). Nach (+) ist g beschränkt durch 1/ε auf ℂ − C. Da C kompakt und g stetig ist, ist g auch auf C und damit auf ganz ℂ beschränkt. Nach dem Satz von Liouville ist also g und damit f konstant, im Widerspruch zur Voraussetzung.
Zum Zusatz: limz → ∞ f (z) = ∞ bedeutet, dass für alle n > 0 ein s > 0 existiert mit: |f (z)| ≥ n für alle z mit |z| > s. Damit gilt insbesondere (+).
Korollar (Fundamentalsatz der Algebra)
Sei f : ℂ → ℂ ein nichtkonstantes Polynom. Dann hat f eine Nullstelle.
Beweis
Da f nicht konstant und ein Polynom ist, gilt limz → ∞ f (z) = ∞.
Ein Analogon des Fundamentalsatzes der Algebra gilt für Potenzreihen („unendliche Polynome“) nicht mehr. Die Exponentialfunktion exp : ℂ → ℂ hat keine Nullstellen. Die Wachstumsaussage (+) ist verletzt, da exp zum Beispiel auf der negativen x-Achse gegen 0 konvergiert.
Der Beweis des Fundamentalsatzes lässt sich kompakt so zusammenfassen:
Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra, Kurzform
Ist ein Polynom f nullstellenfrei, so ist die Funktion 1/f auf ganz ℂ definiert und beschränkt, sodass 1/f und damit f nach dem Satz von Liouville konstant ist.
Zum genauen Nachweis von „beschränkt“ ist allerdings eine Argumentation wie im Beweis des Kriteriums notwendig.
Aus dem Beweis ergibt sich, wie bei der Argumentation über die Mittelwertungleichung, kein Verfahren zur Berechnung einer Nullstelle. Ein konstruktiver Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra ist zuerst von Weierstraß Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt worden.
Die Aussage (a) des Satzes von Liouville besagt:
(+) Ist f ganz und nicht konstant, so ist das Bild f [ ℂ ] unbeschränkt in ℂ.
Aus dem Nullstellensatz ergibt sich nun stärker:
Korollar (dichte Bilder ganzer Funktionen)
Sei f : ℂ → ℂ ganz. Dann gilt:
(a) | Ist |f| ≥ ε für ein ε > 0, so ist f konstant. |
(b) | Ist f nicht konstant, so ist f [ ℂ ] dicht in ℂ. |
Beweis
zu (a):
Dies folgt direkt aus dem Nullstellensatz (denn ist |f (z)| ≥ ε für alle z ∈ ℂ, so hat f keine Nullstelle).
zu (b):
Wir führen den Beweis indirekt. Ist f [ ℂ ] nicht dicht in ℂ, so gibt es ein p ∈ ℂ und ein ε > 0 mit f (z) ∉ Uε(p) für alle z ∈ ℂ. Dann ist g = f − p wie in (a). Also ist g und damit f konstant.
Die Aussage (a) ist ein (kontrapositiv formulierter) Spezialfall von (b), aber es bietet sowohl inhaltlich als auch für den Beweis an, diesen Fall separat zu behandeln.
Die Dichtheit des Bildes einer nicht konstanten ganzen Funktion ist eine bemerkenswerte Selbstverstärkung des Satzes von Liouville. Mit weitergehenden Methoden kann man noch stärker zeigen:
Satz (Satz von Picard)
Ist f : ℂ → ℂ ganz, so ist f [ ℂ ] gleich ℂ oder von der Form ℂ − { p } für ein p ∈ ℂ.
Eine ganze Funktion kann also höchstens einen Wert auslassen. Beispielsweise lässt die Exponentialfunktion genau den Wert 0 aus.