Hebbare Singularitäten

 Aus dem Riemannschen Fortsetzungssatz folgt sofort:

Satz (Charakterisierung der Hebbarkeit)

Sei p eine isolierte Singularität von f : P  . Dann ist p genau dann hebbar, wenn f bei p beschränkt ist, d. h., es gibt ein Uε(p)* ⊆ P und ein s  ∈  [ 0, ∞ [ mit |f (z)| ≤ s für alle z  ∈  Uε(p)*.

 Die Beschränktheit bei p können wir auch in der äquivalenten Form

limsupz  p |f (z)|  <  ∞

schreiben. Wir kommen bei einer beliebigen Annäherung an p in P über eine bestimmte Schranke nicht hinaus (im Betrag der Funktionswerte).

 Die holomorphe Fortsetzung nach P ∪ { p } ist eindeutig. Wir nehmen die Fortsetzung wie bei den rationalen komplexen Funktionen oft stillschweigend vor und bezeichnen die fortgesetzte Funktion auch wieder mit f. Die Funktion f lässt sich dann bei p wie üblich in eine Potenzreihe entwickeln.

Beispiel

Sei f :   definiert durch f (z) = sin(z)/z. Dann ist der Nullpunkt eine stetig hebbare Singularität von f, denn es gilt

sin(z)  =  0  +  sin′(0) (z − 0)  +  o(z − 0)  =  z  +  o(z)  für z  0.

Der eindeutige Fortsetzungswert ist „f (0) = 1“, sodass wir eine ganze (gleich bezeichnete) Funktion f :    erhalten. Alternativ können wir die Sinusreihe durch z dividieren. Dadurch ergibt sich die Reihendarstellung

f (z)  =  n (−1)n z2n(2n + 1)!  für alle z  ∈  .

cana1-AbbIDcomplex3d_sinezoverz_1

f (z)  =  sin(z)/z, stetig fortgesetzt im Nullpunkt durch f (0) = 1.

Polstellen

 Leicht nachzuweisen ist (Übung):

Satz (Charakterisierung der Polstellen)

Sei p eine isolierte Singularität von f : P  . Dann sind äquivalent:

(a)

p ist ein Pol von f.

(b)

Es gibt ein holomorphes g : P ∪ { p }   und ein k ≥ 1 mit

f (z)  =  g(z)(z − p)k  für alle z  ∈  P,  g(p) ≠ 0.

Im Satz sind g und k eindeutig bestimmt. Wie bei den rationalen Funktionen heißt k die Ordnung des Pols p. Eine Polstelle p entsteht durch die Division einer holomorphen Funktion durch eine Potenz von z − p. Wir können dies auch so formulieren: Ist g ≠ 0 in U = Ur(p) ⊆ P ∪ { p }, so gilt f = 1/h auf U für die Funktion h  ∈  𝒪(U) mit h(z) = (z − p)k/g(z). Damit entstehen Pole an Nullstellen holomorpher Funktionen durch Invertierung.

 Entwickeln wir g bei p in eine Potenzreihe, so erhalten wir eine Laurent-Darstellung von f bei p mit endlichem Hauptteil. Sei hierzu

g(z)  =  n an (z − p)n,  a0 ≠ 0,  für alle z  ∈  U = UR(p) ⊆ P ∪ { p }.

Dann gilt für alle z  ∈  U* = UR(p)*:

f (z) =  n an (z − p)n − k  =  n ≥ − k an + k (z − p)n
=  n ≥ − k bn (z − p)n  mit  bn = an + k für alle n ≥ − k,  b− k ≠ 0.

 Wir fassen zusammen:

Satz (Laurent-Entwicklung um eine Polstelle)

Sei p ein Pol von f : P  . Weiter sei R ≤ ∞ maximal mit U = UR(p)* ⊆ P. Dann gibt es eine eindeutig bestimmte Folge (bn)n ≥ − k in  mit b− k ≠ 0, sodass für alle z  ∈  U gilt:

(+)  f (z) =  n ≥ − k bn (z − p)n
=  b− k(z − p)k  +  …  +  b−1z − p  +  b0  +  b1 (z − p)  +  b2 (z − p)2  +  …

 Die Laurent-Entwicklung startet bei of(p) = − k mit der Ordnung k des Pols p. Die Ordnung eines Pols ist aus traditionellen Gründen immer positiv.

 Das Ergebnis ist ein Spezialfall der allgemeinen Laurent-Entwicklung mit einem Kreisring mit Innenradius r1 = 0. Da sich die Laurent-Reihe in diesem Fall einfach berechnen lässt, schadet es nicht, das Ergebnis explizit zu notieren. Hat f mehrere Polstellen, so gibt es Laurent-Entwicklungen von f in polstellenfreien Kreisringen mit Polstellen am Innen- und Außenkreis.

Beispiele

(a)

Die rationale Funktion f :   mit f (z) = 1/z3 hat eine Polstelle 0 der Ordnung 3. Es gilt o0(f) = −3. Die Funktion ist bereits als Laurent-Reihe dargestellt.

(b)

Die Funktion f :   mit f (z) = ez/z2 hat bei 0 einen Pol der Ordnung 2. Die Laurent-Entwicklung bei 0 ist

f (z)  =  1z2  +  1z  +  12  +  z6  +  …  +  zn(n + 2)!  +  …

Sie konvergiert auf *.

Vgl. auch das Kapitel über rationale Funktionen für weitere Beispiele.

Der symbolische Wert ∞

 Wie bei den rationalen Funktionen ist es nützlich, einer Funktion an einer Polstelle den symbolischen Wert ∞ zuzuweisen und mit den Regeln 1/∞ = 0 und 1/0 = ∞ in  =  ∪ { ∞ } zu rechnen. Damit können wir elegant beschreiben:

Polstellen und Nullstellen bei Invertierung

Polstellen entstehen durch Invertierung aus Nullstellen und umgekehrt. Genauer gilt mit Werten in :

Hat g : P   die Nullstellenmenge S und die Polstellenmenge N, so hat die Funktion f = 1/g : P   die Polstellenmenge S und die Nullstellenmenge N. Es gilt

op(f)  =  − op(g)  für alle p  ∈  S ∪ N.

Die Buchstaben S und N stehen hier für „Südpol“ und „Nordpol“, entsprechend den Punkten 0 und ∞ auf der Riemannschen Zahlenkugel.

 Wir können den Wert ∞ auch als Stelle zulassen und Funktionen f :    der Riemannschen Zahlenkugel betrachten. Die Topologie wird um die offenen Basismengen Ur(∞) =  − cl(Ur(0)), r > 0, erweitert, wodurch die Stetigkeit von Funktionen (und vieles mehr) erklärt ist.

Wesentliche Singularitäten

 Wir können den Typ einer isolierten Singularität p einer Funktion f : P   wie folgt bestimmen.

Singularitätstyp, I

Wir fragen nacheinander bis zum Erfolgsfall, ob eine Funktion der Folge

(z − p)0 f (z),  (z − p)1 f (z),  (z − p)2 f (z),  …,  (z − p)k f (z),  …

in einer Umgebung von p beschränkt ist. Gilt dies gleich für die Potenz 0, so ist p hebbar (op(f) = 0). Finden wir ein erstes k ≥ 1, so ist p ein Pol der Ordnung k (op(f) = − k). Finden wir kein k, so ist p eine wesentliche Singularität.

Singularitätstyp, II

Liegt eine Laurent-Entwicklung von f an einer isolierten Singularität p vor (mit Innenradius r1 = 0), so lässt sich der Typ der Singularität einfach ablesen.

Leerer Hauptteil

Gilt an = 0 für alle n < 0, so ist p hebbar.

Endlicher Hauptteil

Gibt es ein größtes k > 0 mit a−k ≠ 0, so ist f ein Pol der Ordnung k.

Unendlicher Hauptteil

Gilt an ≠ 0 für unendlich viele n < 0, so ist p wesentlich.

Beispiele

(1)

Sei f :   definiert durch f (z) = exp(1/z) für alle z  ∈  . Dann ist der Nullpunkt eine wesentliche Singularität von f. Es gilt

f (z)  =  n z−nn!  =  n 1zn n!  =  −∞ < n ≤ 0 zn(−n)!  für alle z ≠ 0.

Die Reihe rechts ist die Laurent-Entwicklung von f bei 0. Sie hat einen unendlichen Hauptteil (und leerem Nebenteil). Es gilt op(f) = −∞.

(2)

Analog haben die auf * definierten Funktionen

exp(1/z2),  sin(1/z),  csc(1/z)  =  1sin(1/z)

eine wesentliche Singularität im Nullpunkt.

(3)

Die Funktion f :    mit f (z) = exp(1/sqrt(z)) für alle z  ∈   hat keine isolierte Singularität im Nullpunkt.

 Das Werteverhalten bei einer wesentlichen Singularität ist im scharfen Kontrast zu den Polstellen völlig wild:

Satz (Satz von Casorati-Weierstraß)

Sei p eine wesentliche Singularität von f : P  , und sei w  ∈  . Dann existiert eine Folge (zn)n  ∈   in P mit limn zn = p und limn f (zn) = w.

 Der Beweis dieses bemerkenswerten Satzes ist überraschend kurz:

Beweis

Ohne Einschränkung können wir wieder p = 0 und w = 0 annehmen (durch Übergang zu f(z − p) − w). Wir führen den Beweis indirekt und zeigen:

(+)Es gebe keine Nullfolge (zn)n  ∈   in P mit limn f (zn) = 0, d. h. es gelte liminf 0 |f (z)| = ε > 0. Dann ist p hebbar oder ein Pol von f.

Beweis von (+)

Sei g = 1/f. Dann gilt limsupz  0 |g(z)| = 1/ε < ∞, sodass g nach dem Riemannschen Fortsetzungssatz holomorph durch „g(0) = c“ für ein eindeutiges c fortgesetzt werden kann. Ist c = 0, so hat f = 1/g einen Pol bei p. Ist c ≠ 0, so ist f = 1/g beschränkt bei p, sodass p eine hebbare Singularität von f ist.

 Bei einer wesentlichen Singularität können wir jede komplexe Zahl mit Funktionswerten ansteuern, wenn wir uns geeignet auf die Singularität zubewegen. In jeder noch so kleinen punktierten Umgebung U* = Uε(p)* − { p } ⊆ P der Singularität p liegen die Funktionswerte dicht in , d. h. cl(f [ U* ])  =  . Die Menge V = f [ U* ] ist offen nach dem Offenheitssatz. Ihr Komplement N =  − V ist abgeschlossen und nirgends dicht, d. h. es gilt int(N) = ∅. Stärker gilt:

Satz (Großer Satz von Picard)

Sei p eine wesentliche Singularität von f : P  . Dann gilt eine der beiden folgenden Aussagen

(a)

Es gilt f [ Uε(p)* ] =  für alle ε > 0.

(b)

Es gibt ein c*  ∈  , sodass f [ Uε(p)* ]  =   − { c* } für alle ε > 0.

Kurz: Die Funktion f nimmt in jeder Umgebung von p jeden Wert mit höchstens einer Ausnahme an. Wir verweisen den Leser auf die Literatur für einen Beweis des Satzes.

Beispiel

Für die Funktion exp(1/z) auf * ist beispielsweise 0 der Ausnahmepunkt; jeder andere Punkt wird in jeder Umgebung Uε(0)* des Nullpunkts angenommen (und automatisch dann sogar unendlich oft, da wir die punktierte Umgebung beliebig verkleinern können).

cana1-AbbIDcomplex_expinverse_1

f :   mit f (z) = exp(1/z) für alle z ≠ 0. Die Singularität ist wesentlich, sodass sich die Farben dort häufen.

cana1-AbbIDcomplex_expinverse_2

f :   mit f (z) = exp(1/z2) für alle z ≠ 0. Die roten Punkte bei 0 sind kaum zu vermeidende Rechenfehler.

cana1-AbbIDcomplex_sineinverse_1a

f :   mit f (z) = sin(1/z) für alle z ≠ 0.

cana1-AbbIDcomplex_cscinverse_1a

f :   mit f (z) = csc(1/z) = 1/sin(1/z) für alle z ≠ 0.