Homologe Wege
Wir erinnern an:
Definition (Indexfunktion, Inneres und Äußeres eines Weges)
Sei γ ein geschlossener Weg in ℂ, und sei Uγ = ℂ − spur(γ). Dann ist die Indexfunktion indγ : Uδ → ℂ definiert durch
indγ(p) = ∫γ 1z − p dz für alle p ∈ Uγ.(Index, Umlaufzahl von γ bei p)
Mit Hilfe der Indexfunktion definieren wir weiter:
int(γ) = { p ∈ Uγ | indγ(p) ≠ 0 },(Inneres von γ)
ext(γ) = { p ∈ Uγ | indγ(p) = 0 }.(Äußeres von γ)
Erweiterung auf Kurven
Allgemeiner hatten wir die Indexfunktion auch für beliebige geschlossene Kurven α eingeführt. Damit sind das Innere int(α) und das Äußere ext(α) einer geschlossenen Kurve α in ℂ definiert. In diesem Kapitel konzentrieren wir uns auf Wege.
Wir haben gezeigt, dass die Werte einer Indexfunktion stets ganze Zahlen sind. Weiter ist eine Indexfunktion indγ auf den Zusammenhangskomponenten von Uγ konstant.
Das Innere int(γ) eines Weges besteht aus allen Punkten p der komplexen Ebene, die von γ mindestens einmal vollständig umlaufen oder umschlungen werden (mit beliebiger Orientierung). Die Menge int(γ) ist beschränkt und die Vereinigung aller Komponenten mit Index ± 1, ± 2, ± 3, … Dagegen ist ext(γ) die Vereinigung aller Komponenten mit Index 0, und unter diesen Komponenten gibt es eine eindeutige unbeschränkte Komponente (es kann weitere 0-Komponenten geben oder auch nicht). Punkte auf der Spur von γ gehören niemals zum Inneren und Äußeren. Die Index-Funktion ist für diese Punkte nicht definiert.
Das Innere und Äußere eines Weges hängen nur vom Weg ab. Dagegen beziehen sich die folgenden grundlegenden Begriffe auf einen gegebenen Bereich.
Definition (homolog und nullhomolog)
Sei P offen und nichtleer.
(a) | Sei γ ein geschlossener Weg in P. Dann heißt γ nullhomolog in P, falls int(γ) ⊆ P. |
(b) | Zwei Wege γ1, γ2 in P heißen homolog in P, wenn sie sich die Endpunkte teilen und der geschlossene Weg γ1 − γ2 nullhomolog ist. |
Ein geschlossener Weg in P fängt Punkte in ℂ ein. Die Nullhomologie fordert, dass alle eingefangenen Punkte in P liegen.
Beispiele
(1) | Jeder geschlossene Weg ist trivialerweise nullhomolog in ℂ. |
(2) | Ein Kreisweg um den Nullpunkt ist nullhomolog in ℂ, aber nicht nullhomolog in ℂ*. Der Punkt 0 im Inneren von γ gehört nicht zu ℂ*. |
(3) | Der Einheitskreisweg ∂U1(0) ist nullhomolog ℂ − { 2 }. Allgemeiner ist er genau dann nullhomolog in P, wenn cl(U1(0)) ⊆ P. Der Rand des Kreises muss zu P gehören, damit γ ein Weg in P ist. |
Die Homologie zweier Wege in P ist eine Äquivalenzrelation auf den Wegen in P (Übung).
Es stellt sich die Frage, wie „nullhomolog“ und „nullhomotop“ zusammenhängen. Anschaulich gilt: Können wir einen geschlossenen Weg in γ in P auf einen Punkt zusammenziehen, so liegen alle von γ eingefangenen Punkte in P. Denn andernfalls müssten wir beim Zusammenziehen einen Punkt im Inneren der Kurve, der nicht zu P gehört, überstreichen. Der folgende Satz besagt, dass diese Anschauung korrekt ist.
Satz (Nullhomotopie impliziert Nullhomologie)
Sei γ nullhomotop in P. Dann ist γ nullhomolog in P.
Beweis
Sei p ∈ ℂ − P. Dann ist f : P → ℂ mit
f (p) = 1z − p für alle z ∈ P
holomorph und damit I(f, γ) = 0 nach dem Integralsatz für nullhomotope Wege. Durch Kontraposition erhalten wir, dass für alle p ∈ Uγ gilt:
indγ(p) = ∫γ 1z − p dz ≠ 0 impliziert z ∈ P.
Dies zeigt, dass int(γ) ⊆ P. Damit ist γ nullhomolog in P.
Die andere Implikation gilt dagegen im Allgemeinen nicht.
Ein nullhomologer, aber nicht nullhomotoper Weg
Sei G = ℂ − { ± 1 } (doppelte Punktierung). Wir betrachten die vier sich im Nullpunkt berührenden geschlossenen Wege γ1, …, γ4 in G, die die Kreislinien
∂U1(1), ∂U1(−1), ∂U2(2), ∂U2(− 2)
mit Start und Ende im Nullpunkt gegen den Uhrzeigersinn durchlaufen. Nun bilden wir den Weg γ, indem wir nacheinander − γ1, − γ2, γ3, γ4 durchlaufen. Dann ist besteht das Innere von γ aus dem beiden offenen Kreissicheln
U2(2) − U1(1), U2(− 2) − U1(−1)
die zu G gehören. Die Umlaufzahl ist 1 in den beiden Sicheln und 0 au0erhalb (der Leser überprüfe dies mit der Möbius-Nummerierung). Damit ist der Weg γ nullhomolog. Dagegen ist γ nicht nullhomotop, da wir beim Zusammenziehen der Kreise bei den Punktierungen ±1 hängenbleiben. Mit Hilfe der Fundamentalgruppe π1(G) lässt sich dies klar einsehen. Die Gruppe ist isomorph zur freien von zwei Elementen a und b erzeugten Gruppe L(a, b). Bezeichnen wir einen Umlauf um 1 bzw. −1 gegen den Uhrzeigersinn mit Basispunkt 0 mit a bzw. b, so ist der Weg γ bis auf Homotopie gegeben durch
a−1 b−1 a b ≠ e.
Erst mit Kommutativität erhalten wir − a − b + a + b = 0.
Hinsichtlich der Integration in ℂ sind die beiden Zugänge jedoch äquivalent. Nach obigem Satz sind die Wegäquivalenzklassen der Homotopie feiner als die der Homologie. Homotopisch ist das Aneinanderhängen von zwei geschlossenen Wegen γ1 und γ2 bzgl. eines festen Basispunkts im Allgemeinen nicht kommutativ. Man kann zeigen, dass durch Abelisierung die Homotopieklassen in die Homologieklassen übergehen. Da bei der Integration die Reihenfolge, bei der über geschlossene Wege integriert wird, keine Rolle spielt, wird bei der Integration diese Abelisierung automatisch vorgenommen.
Wir wollen nun zeigen, dass die Nullhomologie eines Weges das Verschwinden aller Integrale entlang dieses Weges mit holomorphen Integranden charakterisiert. Hierzu sind einige Vorbereitungen nötig.