7. Der Residuensatz
Entwickeln wir eine in einem Kreisring A mit Zentrum p holomorphe Funktion f in eine Laurent-Reihe ∑n ∈ ℤ an (z − p)n, so ist bei einer beliebigen Integration in A über f nur der Summand a−1 (z − p)−1 relevant. Alle anderen Summanden haben Stammfunktionen und liefern den Beitrag 0 zum Integral. Eine Verallgemeinerung, die das Integrieren um mehrere isolierte Singularitäten zulässt, liefert den Residuensatz. Mit Hilfe des entstehenden Kalküls lassen sich viele reelle Integrale durch einen Umweg ins Komplexe berechnen.
Residuen
Sei f : P → ℝ holomorph, und sei p eine isolierte Singularität von f. Weiter sei R ∈ ] 0, ∞ ] mit UR(p)* = UR(p) − { p } ⊆ P und
f (z) = ∑n ∈ ℤ an (z − p)n für alle z ∈ UR(p)*
die zugehörige Laurent-Entwicklung von f bei p (mit Innenradius r1 = 0). Dann gilt für jedes r ∈ ] 0, R [ und U = Ur(p) aufgrund der nach normaler Konvergenz möglichen Vertauschung von Integration und Summation:
∫∂U f (z) dz = ∑n ∈ ℤ an ∫∂U (z − p)n dz = a−1 2 π i.
Nur das Integral über den Summanden a−1 (z − p)−1 mit Wert a−1 2 π i bleibt übrig. Alle anderen Summanden sind aufgrund der Existenz von Stammfunktionen Null.
Direkter lässt sich dies auch mit der Koeffizientenformel für die Laurent-Entwicklung einsehen. Denn es gilt
a−1 = 12π i ∫∂U f (z)(z − p)−1 + 1 dz = 12π i ∫∂U f (z) dz.
Das Vertauschungsargument bleibt dennoch eindrucksvoll, und es lässt sich spielerisch durchführen. Eines der ersten Erlebnisse in der Funktionentheorie ist das Hauptbeispiel
∫∂Ur(0) zn dz = 0 für n ≠ −1, ∫∂Ur(0) z−1 dz = 2π i für n ≠ −1.
Ein Integral über eine Laurent-Reihe fischt sich durch die Vertauschung nur den Koeffizienten für die Potenz −1 heraus, bis auf den konstanten Faktor 2π i. Das Integral über 1/z ist der Kern der Funktionentheorie. Das Phänomen des geschlitzten Logarithmus erklärt, warum das Integral nicht verschwindet, und warum 2π i herauskommt.
Der (−1)-Koeffizient verdient als Überbleibsel besondere Beachtung:
Definition (Residuum)
Sei f : P → ℂ holomorph, und sei p eine isolierte Singularität von f. Weiter sei a−1 der (−1)-Koeffizient der Laurent-Entwicklung von f bei p. Dann heißt
resp(f) = a−1
a−1 das Residuum von f bei p. Weiter setzen wir resp(f) = 0 für alle p ∈ P.
Aus der Definition ergibt sich (Übung):
Satz (Residuum Null)
Sei f : P → ℂ holomorph, und sei p eine isolierte Singularität von P. Dann gilt resp(f) = 0 genau dann, wenn f in einer punktierten Umgebung Uε(p)* von p eine Stammfunktion besitzt. Weiter ist resp(f) die eindeutige komplexe Zahl c, für die g : P → ℂ mit g(z) = f (z) − c/(z − p) in einem Uε(p)* eine Stammfunktion besitzt.
Wir versammeln Rechenregeln für Residuen (Nachweise als Übung). Dabei ist stets p eine isolierte Singularität von P oder ein Element von P.
Linearität
Seien f, g : P → ℂ holomorph. Dann gilt für alle a, b ∈ ℂ:
resp(a f + b g) = a resp(f) + b resp(f).
Ableitung
Sei f : P → ℂ holomorph. Dann gilt resp(f ′) = 0.
Hebbare Singularität
Sei f : P → ℂ holomorph, und sei p hebbar. Dann gilt resp(f) = 0.
Einfacher Pol
Sei f : P → ℂ holomorph und p ein Pol erster Ordnung von f. Dann gilt
resp(f) = limz → p (z − p) f (z).
Divisionsregel
Seien g, h : P → ℂ holomorph, p ∈ P und h(p) = 0, g(p) ≠ 0, h′(p) ≠ 0. Sei f = g/h, sodass f : P − { p } → ℂ in p einen einfachen Pol besitzt. Dann gilt:
resp(f) = limz → p (z − p) g(z)h(z) = g(p)h′(p).
Pol höherer Ordnung
Sei f : P → ℂ holomorph und p ein Pol von f der Ordnung k. Sei g mit g(z) = (z − c)k f (z) holomorph fortgesetzt nach p. Dann gilt
(k − 1)! resp(f) = g(k − 1)(p).
Für k = 2 gilt speziell resp(f) = g′(p).
Logarithmische Ableitung
Seien f, g : P → ℂ holomorph, p ∈ P und k = of(p) ∈ ℤ. Dann gilt für die logarithmische Ableitung f ′/f:
resp(f ′/f) = k, resp(g f ′/f) = g(p) k.