Die Zählformel und der Satz von Rouché
Wir nennen einen geschlossenen Weg γ in ℂ einen 0-1-Weg (bzgl. der Umlaufzahlen), wenn die Indexfunktion konstant gleich 1 auf dem Inneren int(γ) des Weges ist. Ein geschlossener Weg genau dann ein 0-1-Weg, wenn er alle Punkte, die er umläuft, genau einmal im Uhrzeigersinn umläuft. (In der Literatur heißen diese Wege auch „einfach geschlossen“; da der Begriff „einfach“ sehr häufig für die Injektivität bis auf den Endpunkte verwendet wird, besteht eine Verwechslungsgefahr.) Unsere Standardintegrationswege sind alle 0-1-Wege.
Satz (Anzahlformel für Null- und Polstellen, Zählformel)
Sei f : P → ℂ meromorph. Weiter sei γ ein in P nullhomologer 0-1-Weg, auf dem keine Null- oder Polstellen von f liegen. Weiter seien
N = ∑p ∈ int(γ), f (p) = 0 op(f), P = ∑p ∈ int(γ), p Pol von f |op(f)|.
Dann gilt N, P < ∞ und
12 π i ∫γ f ′(z)f (z) dz = N − P.
Die Zahlen N und P sind die in ihrer Vielfachheit gezählten Null- bzw. Polstellen von f im Inneren von γ.
Beweis
Da f keine Nullstelle auf spur(γ) besitzt, ist f nicht konstant gleich 0 auf einer Komponente von int(γ). Hieraus folgt (mit Hilfe des Identitätssatzes):
(i) | { p ∈ int(γ) | f (p) = 0 } ist endlich, |
(ii) | Ist p ∈ int(γ) eine Nullstelle von f, so gilt op(f) < ∞. |
Damit ist N endlich. Ebenso umschließt γ höchstens endlich viele Pole von f. Da f meromorph ist, ist kein Pol wesentlich. Damit ist auch P endlich.
Da f keine Null- und Polstellen auf spur(γ) besitzt, ist das Integral wohldefiniert. Nach der Regel für die logarithmische Ableitung gilt
resp(f ′/f) = k.
Der Residuensatz liefert (mit Umlaufzahlen 1):
12 π i ∫γ f ′(z)f (z) dz = ∑p ∈ int(γ) resp(f ′/f) = ∑p ∈ int(γ) op(f) = N − P.
Aus der Anzahlformel erhalten wir:
Satz (Satz von Rouché)
Seien f, g : P → ℂ holomorph, und sei γ ein in P nullhomologer 0-1-Weg. Es gelte
(+) |f (z) − g(z)| < |f (z)| + |g(z)| für alle z ∈ spur(γ).
Dann gilt Nf = Ng für die Anzahl der (in ihrer Vielfachheit gezählten) Nullstellen von f bzw. g in int(γ).
Beweis
Da die Ungleichung in (+) strikt ist, haben f und g keine Nullstellen auf spur(γ), sodass die Anzahlformel auf f und g anwendbar ist. Die Funktion h = f/g ist meromorph auf P und hat keine Nullstellen oder Pole auf spur(γ). Die Division von (+) durch |g(z)| liefert:
|h(z) − 1| < |h(z)| + 1 für alle z ∈ spur(γ).
Insbesondere gilt:
(++) h(z) ∈ ℂ− für alle z ∈ spur(γ).
(Denn für jede reelle Zahl x ∈ ] −∞, 0 ] gilt |x − 1| = |x| + 1.)
Da spur(γ) kompakt ist, gibt es eine Umgebung U von spur(γ), sodass h : U → ℂ− holomorph. Damit ist log(h) auf U definiert und es gilt
(log ∘ h)′ = h′h = f ′f − g′g.
Die rechte Seite besitzt also eine Stammfunktion in U, sodass ihr Integral entlang γ verschwindet. Da die Funktionen keine Polstellen besitzen und γ ein nullhomologer 0-1-Weg in P ist, gilt
0 = ∫γ f ′(z)f (z) − g′(z)g(z) dz = 2π i (Nf − Ng)
nach der Anzahlformel. Damit ist Nf = Ng.
In vielen Fällen genügt die schwächere Ungleichung |f (z) − g(z)| < |g(z)|. Ein beeindruckendes Beispiel ist der folgende Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra, der nicht nur eine, sondern gleich alle Nullstellen nachweist:
Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra
Sei f : ℂ → ℂ ein normiertes Polynom vom Grad n ≥ 1. Dann ist f (z) − zn ein Polynom vom Grad kleiner als n. Ist also r > 0 hinreichend groß, so gilt
|f (z) − zn| < |zn| für alle z ∈ ∂Ur(0).
Nach dem Satz von Rouché hat also f in Ur(0) genauso viele Nullstellen wie g(z) = zn, nämlich n Stück (in ihrer Vielfachheit gezählt).