Integration über Polstellen mit Hauptwerten
Die Spur eines Integrationswegs liegt immer im Definitionsbereich des Integranden. Laufen wir geradlinig auf eine isolierte Singularität p von f zu, so können wir p mit einem kleinen Halbkreis umschiffen, bevor wir wieder geradlinig weitergehen. Speziell betrifft dies Polstellen auf der x-Achse bei einem Halbkreisweg κr oder einem Rechtecksweg ρr. Wir vereinbaren:
Ausweichen von Polstellen auf der x-Achse
Für eine gegebene Funktion f : ℂ − E → ℂ, E endlich, mit Polen p1, …, pn auf der x-Achse bezeichnen wir mit κ(r, ε) (ε > 0 mit Uε(p) ∩ E = { p }) den modifizierten Weg κr, bei dem alle Strecken [ pk − ε, pk + ε ] durch im Uhrzeigersinn durchlaufene Halbkreise − ∂Uε(p)+ in der oberen Halbebene ersetzt werden. Analoges gilt für ρr, ε und andere Wege.
Beim Ausweichen von einfachen Polen ist nützlich:
Cuachy-Hauptwert eines Integrals
Sei [ a, b ] ein reelles Intervall, und sei p ∈ ] a, b [. Weiter sei f : [ a, b ] → ℝ lokal integrierbar in [ a, p [ und ] p, b [. Dann heißt im Fall der Existenz
pv ∫ba f = limε → 0 (∫p − εa f + ∫bp + ε f ).
der (Cauchy-) Hauptwert des Integrals. Dabei steht „pv“ für engl. „principal value“. Durch Aufspaltung und Summation wird allgemeiner der Hauptwert eines Integrals für endlich viele Ausmahmepunkte p1, …, pn in einem Definitionsintervall erklärt. Entscheidend ist die symmetrische Annäherung an die Stelle p. Es gilt zum Beispiel
pv ∫1−1 1x dx = 0, pv ∫2−1 1x dx = 0 + ∫21 1x dx = log(2),
Mit Hauptwerten können wir insbesondere über endlich viele einfache Polstellen integrieren. Der Hauptwert ignoriert oder „löscht“ diese Pole im folgenden Sinne: Ist f (x) = c/(x − p) + g(x) mit c ∈ ℝ und g stetig, so gilt
pv ∫p + εp − ε f (x) dx = ∫p + εp − ε g(x) dx für alle ε mit [p − ε, p + ε ] ⊆ [ a, b ].
Schließlich setzen wir, erneut im Fall der Existenz,
pv ∫∞−∞ f = limr → ∞ pv ∫r− r f.
Damit ist zum Beispiel der Hauptwert über die Identität auf ℝ gleich 0.
Das Ausweichen liefert folgende Variante des Satzes über Halbkreiswege:
Satz (Halbkreisintegrale mit einfachen reellen Polstellen)
Sei f : ℂ − E → ℂ holomorph, E endlich, f (z) = o(1/z) für z → ∞. Für alle p ∈ E ∩ ℝ sei p ein einfacher Pol von f . Dann gilt
pv ∫∞−∞ f (x) dx = 2π i ∑p ∈ E, Im(p) > 0 resp(f) + π i ∑p ∈ E ∩ ℝ resp(f).
Die Beweisidee ist sehr einfach: Der Hauptwert löscht einfache Pole, sodass wir die Beiträge der kleinen Halbkreiswege von der Residuensumme abziehen müssen (durch ein Minuszeichen dieser Beiträge erscheint dieses Abziehen in der Formel als Addition).
Beweis
Sei E′ = E ∩ ℝ. Ist p ∈ E′ und gp = f − resp(f)/(z − p) der Nebenteil von f bei p, so gilt für ε hinreichend klein:
(+) I(f, − ∂Uε(p)+) = − π i resp(f) + I(gp, − ∂Uε(p)+).
Durch den Durchlauf im Uhrzeigersinn erhalten wir ein Minuszeichen und durch den Halbkreis nur π i anstelle des üblichen 2 π i. Der zweite Summand ist Allgemeinen von 0 verschieden (da wir nur über einen Halbkreis integrieren), aber er konvergiert nach der Standardabschätzung gegen 0, wenn ε gegen 0 konvergiert:
limε → 0 I(f, − ∂Uε(p)+) = − π i resp(f).
Aus (+) und der Wegunabhängigkeit für gp folgt weiter:
pv ∫p − ε− p − ε f (x) dx | = ∫p + ε− p − ε gp(x) dx = I(gp, − ∂Uε(p)+) |
= I(f, − ∂Uε(p)+) + π i resp(f). |
Damit erhalten wir (wieder mit 0-Beiträgen auf den großen Kreisbögen im Limes):
pv ∫∞−∞ f (x) dx | = limr → ∞ pv ∫r− r f (x) dx |
= limr → ∞ ∫κr, 1/r f (z) dz + π i ∑p ∈ E′ resp(f) | |
= 2π i ∑p ∈ E, Im(p) > 0 resp(f) + π i ∑p ∈ E′ resp(f). |
Das analoge Ergebnis für Rechteckswege lautet:
Satz (Rechtecksintegrale mit einfachen reellen Polstellen)
Sei f : ℂ − E → ℂ holomorph, E endlich, f (z) = o(1) für z → ∞. Für alle p ∈ E ∩ ℝ sei p ein einfacher Pol von f. Dann gilt
pv ∫∞−∞ f (x) ei x dx = 2π i ∑p ∈ E, Im(p) > 0 resp(f ei z) + π i ∑p ∈ E ∩ ℝ resp(f ei z).
Die Paradeanwendung des Satzes ist eine einfache Berechnung des Dirichlet-Integrals für den Sinus Kardinalis (die wir früher bereits durchgeführt hatten):
Beispiel: Dirichlet-Integral
pv ∫∞−∞ ei xx dx = 0 + i π res0(eiz/z) = i π,
pv ∫∞−∞ ei xx dx = pv ∫∞−∞ cos(x)x dx + i ∫∞−∞ sin(x)x dx, sodass
∫∞−∞ sin(x)x dx = π, ∫∞0 sin(x)x dx = π/2.
Ausgehend vom Wert π für das Dirichlet-Integral lassen sich die Integrale für sin(x)n/xn durch partielle Integration unter Einsatz der Verdopplungsformeln (und ihrer Verallgemeinerungen) für den Kosinus und Sinus bestimmen:
Allgemeinere Dirichlet-Integrale
Durch die einfache Substitution „t = n x, dt = n dx“ erhalten wir
∫∞−∞ sin(nx)x dx = ∫∞−∞ sin(t)t dt = π für alle n ≥ 1.
Wir verwenden nun partielle Integration. Dabei geben wir einen Produktterme der Übersichtlichkeit halber gar nicht an, wenn er im Limes den Wert 0 besitzt; weiter verzichten wir auf „dx“. Wir erhalten:
∫∞−∞ sin(x)2x2 =p. I. ∫∞−∞ 2 sin(x) cos(x)x = ∫∞−∞ sin(2x)x = π.
∫∞−∞ sin(x)3x3 = ∫∞−∞ 3 sin(x) − sin(3x)4 x3 =p. I. ∫∞−∞ 3 cos(x) − 3 cos(3x)8 x2
=p. I. ∫∞−∞ − 3 sin(x) + 9 sin(3x)8 x = − 3 + 98 π = 3 π4.
Die nächsten Werte sind
∫∞−∞ sin(x)4x4 = 2 π3, ∫∞−∞ sin(x)5x5 = 115 π192, ∫∞−∞ sin(x)6x6 = 11 π20.