2. Zur Verstimmung zwischen Cantor und Dedekind
Im Jahr 1874 erschien im 77. Band des Crelle Journals für die reine und angewandte Mathematik die epochemachende Arbeit „Über eine Eigenschaft des Inbegriffes aller reellen algebraischen Zahlen“ von Georg Cantor ([ Cantor 1874 ]). Aus heutiger Sicht lässt sich das wesentliche Ergebnis dieser Schrift in einem Satz zusammenfassen: Die reellen Zahlen sind überabzählbar. Aus diesem Resultat, das heute zum Kanon des mathematischen Grundwissens zählt, entwickelte sich unter anderem die Cantorsche Kontinuumshypothese, die Dimensionstheorie, das Diagonalverfahren und die aus dem Diagonalverfahren hervorgehende Paradoxie von Bertrand Russell und Ernst Zermelo. Die Veröffentlichung besitzt eine komplizierte Vorgeschichte, in deren Zentrum der Briefwechsel zwischen Georg Cantor und Richard Dedekind gegen Ende des Jahres 1873 steht. Dieser Briefwechsel endet in einer Verstimmung Dedekinds, die zu einem Abbruch der Korrespondenz führt und den Gedankenaustausch der beiden Mathematiker zu den Grundlagen der Mengenlehre in der Folgezeit stark behindert. Ursache dieser Verstimmung ist, dass Cantor die Beiträge Dedekinds in seiner Arbeit nicht nur nicht erwähnt, sondern sich frei aus Dedekinds Briefen bedient. Die Begebenheit wurde zwischen den Beteiligten offenbar nie geklärt. Dedekind dokumentiert seine Verärgerung nur in privaten Aufzeichnungen, Cantor scheint sich keiner Schuld bewusst zu sein.
Die geschilderten Ereignisse sind aus mathematikhistorischer Sicht vor allem von José Ferreirós aufgearbeitet worden (siehe [ Fereirrós 1993, 1999 ]). Es scheint, dass davor niemand den Finger auf diese Wunde der Mathematikgeschichte legen wollte. Viele Darstellungen der frühen Geschichte der Mengenlehre breiteten den Mantel des Schweigens über den Vorfall. Umgekehrt ist seit den Arbeiten von Ferreirós zumindest unter Dedekind-Forschern die Meinung verbreitet, dass Cantor unredlich gehandelt hat, indem er den Beitrag von Dedekind in seiner Veröffentlichung von 1874 verschwieg. Ich möchte in dieser Notiz für eine teilweise Korrektur dieser Sicht plädieren.
Der für unsere Analyse wichtigste Teil des Briefwechsels zwischen Cantor und Dedekind sowie die privaten Aufzeichnungen Dedekinds sind in [ Noether/Cavaillès 1937 ] abgedruckt. Darüber enthalten vor allem [ Grattan-Guiness 1971 ], [ Dugac 1976 ] und [ Meschkowski/Nilson 1991 ] Materialien zum Briefwechsel.
Eine Kurzfassung der Ereignisse liefert die folgende Chronologie:
29. 11. 1873: Cantor teilt Dedekind die Frage nach der Überabzählbarkeit der Menge der reellen Zahlen mit, die er nicht beantworten kann. Er bemerkt, dass die Menge aller rationalen Zahlen und sogar die Menge aller endlichen Tupel natürlicher Zahlen abzählbar ist.
2. 12. 1873: Cantor antwortet auf einen Brief von Dedekind, in dem Dedekind beweist, dass die Menge der algebraischen Zahlen abzählbar ist. Er bemerkt, dass Dedekinds Beweis „ungefähr derselbe“ sei wie sein Beweis der Abzählbarkeit der endlichen Tupel natürlicher Zahlen.
7. 12. 1873: Cantor teilt Dedekind einen Beweis der Überabzählbarkeit von ℝ mit. Der Beweis wird von beiden Forschern als kompliziert eingestuft, nimmt aber aus heutiger Sicht den Beweis des stärkeren Baireschen Kategoriensatzes für die reellen Zahlen vorweg (siehe hierzu [ Deiser 2008 ]).
9. 12. 1873: Cantor teilt Dedekind mit, dass er einen vereinfachten Beweis für die Überabzählbarkeit gefunden habe, gibt aber nur eine kurze Beschreibung des Arguments an, ohne es auszuführen. Unabhängig davon hatte auch Dedekind bereits eine Vereinfachung gefunden, die er Cantor ebenfalls brieflich mitgeteilt hat.
25. 12. 1873: Cantor kündigt Dedekind die Veröffentlichung der Ergebnisse an, zu der er von Weierstraß angeregt wurde. Dabei schreibt er:
„Dabei kamen mir, wie Sie später finden werden, Ihre, mir so werten, Bemerkungen und Ihre Ausdrucksweise sehr zu statten. Dies wollte ich mir erlauben, Ihnen mitzuteilen.“ [ Noether/Cavaillès 1937 ].
Die Briefe Dedekinds an Cantor sind nicht erhalten. Dedekind hat aber private Aufzeichnungen über den Briefwechsel verfasst (undatiert, aber offenbar nach der Veröffentlichung 1874 von Cantor niedergeschrieben). Darin lesen wir (wieder zitiert nach [ Noether/Cavaillès 1937 ]):
„… Hierauf habe ich umgehend geantwortet, dass ich die erste Frage [ nach der Überabzählbarkeit von ℝ ] nicht entscheiden könnte, zugleich aber den Satz ausgesprochen und vollständig bewiesen, dass sogar der Inbegriff aller algebraischen Zahlen sich dem Inbegriffe (n) der natürlichen Zahlen n in der angegebenen Weise zuordnen lässt (dieser Satz und Beweis ist bald darauf fast wörtlich, selbst mit Gebrauch des Kunstausdrucks Höhe, in die Abhandlung von Cantor in Crelle Bd. 77 übergegangen …)“
„Diesen, am 8. Dezember erhaltenen Brief beantworte ich an demselben Tage mit einem Glückwunsch zu dem schönen Erfolg, indem ich zugleich den Kern des Beweises (der noch recht kompliziert war), in grosser Vereinfachung ‚widerspiegele‘; diese Darstellung ist ebenfalls fast wörtlich in Cantors Abhandlung (Crelle Bd. 77) übergegangen…“
„C. schreibt (von Berlin), er habe (durch Weierstraß veranlasst), einen kleinen Aufsatz verfasst unter dem Titel: Über eine Eigenschaft des Inbegriffes aller reellen algebraischen Zahlen. ‚Dabei kamen mir, wie Sie später finden werden, Ihre, mir so werten, Bemerkungen und Ihre Ausdrucksweise sehr zu statten‘.“
„Eine Aufklärung über die ‚Berliner Verhältnisse‘ habe ich nie erhalten; auch haben wir über den Aufsatz (Crelle Bd. 77) später nicht mehr verhandelt.“
Damit ergibt sich folgendes Bild: Cantor hat in seiner Veröffentlichung von 1874 Teile aus den Briefen von Dedekind verwendet, und zwar sowohl für den Beweis der Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen als auch für den Beweis der Überabzählbarkeit von ℝ. Er schreibt an Dedekind vollkommen offen und ohne jedes Unrechtsbewusstsein, dass er sich beim Verfassen der Arbeit aus seinen Briefen bedient habe. In der Arbeit − deren Form, Inhalt und Veröffentlichungszeitpunkt von Weierstraß beeinflusst wurden − wird Dedekind mit keinem Wort erwähnt, und Dedekind ist hierüber verärgert. Eine Aussprache zwischen Cantor und Dedekind über den Vorfall findet nicht statt. Das Verhältnis ist getrübt, der Briefwechsel bricht nach der Veröffentlichung für einige Jahre ab. Cantor scheint sich Zeit seines Lebens keiner Verletzung wissenschaftlicher Gepflogenheiten bewusst gewesen zu sein. Am 15. November 1899 schreibt er an David Hilbert:
„… da er [ Dedekind ] mir aus mir unbekannten Gründen jahrelang gezürnt und die alte Korrespondenz von 1871 seit 1874 circa abgebrochen hatte.“ [ Meschkowski/Nilson 1991 ]
Es stellt sich die Frage nach der Bewertung dieses für die Geschichte der modernen Mathematik äußerst bedauerlichen Konflikts:
(1) | Hat Cantor aus Dedekinds Briefen abgeschrieben? |
(2) | Wem ist das Resultat der Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen zuzuschreiben? |
(3) | Wem ist der veröffentlichte Beweis der Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen zuzuschreiben? |
(4) | Wem ist der veröffentlichte Beweis der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen zuzuschreiben? |
(5) | Wer hat die Bedeutung der Überabzählbarkeit erkannt? |
Ich möchte diese Fragen folgendermaßen beantworten:
(1) | Ja, wie Cantor selbst an Dedekind schreibt. |
(2) | Wahrscheinlich Dedekind im Sinne der ersten expliziten Formulierung des Ergebnisses, Cantor im Hinblick auf die eng verwandte Abzählbarkeit der endlichen Tupel natürlicher Zahlen. |
(3) | Dedekind, vor allem in Hinblick auf die Einführung des wichtigen Begriffs „Höhe“. |
(4) | Dedekind im wörtlichen Sinne und möglicherweise auch Cantor im Sinne einer eigenständig gefundenen ähnlichen Vereinfachung des ersten Briefbeweises. |
(5) | Cantor, von den ersten Anwendungen bis zur Entdeckung der Widersprüche der naiven Mengenlehre. |
Insgesamt kommt Cantor bei dieser sachlich-kühlen Auflistung jedoch zu schlecht weg, indem er in die Nähe eines Abschreibers gerückt wird, der nicht oder nicht ausreichend zitiert. Zunächst gilt: Im 19. Jahrhundert gab es keine Kultur des Zitierens wie heute, nicht einmal eine Anerkennung „by private communication“ in der Bibliographie oder den „acknowledgements“. Hinzu kommt eine allgemeine wissenschaftshistorisch bedeutsame Tatsache, die ich als Expertenreaktion bezeichnen möchte: Die Mitteilung von Fragen, Ergebnissen oder Teilergebnissen an Fachkollegen führt in vielen Fällen − wie vom Mitteilenden intendiert und erhofft − zu spontanen Antworten, neuen Fragen, neuen Gesichtspunkten. Der hierdurch mögliche wissenschaftliche Fortschritt wird heute zum Beispiel explizit durch Konferenzen mit ihren zahlreichen Austauschmöglichkeiten und Diskussionen vor und nach den Vorträgen gefördert. Die schließlich zu erfolgende Aufteilung der Lorbeeren ist von Fall zu Fall unterschiedlich, in jedem Fall wird dem Fragesteller aber ein hohes Maß an Urheberschaft zugebilligt werden, wenn sich die Fragestellung als fruchtbar erwiesen hat. In unserem Fall hat Cantor ohne jeden Zweifel die bedeutsame und vollkommen neuartige Frage nach der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen gestellt, den ersten (sehr gehaltvollen und keineswegs „zu komplizierten“) Beweis der Überabzählbarkeit entdeckt, die Bedeutung des Ergebnisses erkannt und die sich entwickelnden Fragen über einen langen Zeitraum beharrlich verfolgt. Er hat als erster die Abzählbarkeit der rationalen Zahlen (der Überlieferung nach schon als Student in einem Seminar bei Weierstraß) und der endlichen Tupel natürlicher Zahlen formuliert und bewiesen. Ob Dedekind die Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen ohne diese Anregungen überhaupt formuliert hätte, darf zumindest bezweifelt werden. Es ist müßig darüber zu diskutieren − und letztendlich unmöglich zu entscheiden −, ob den beiden Beweisen der Abzählbarkeit der endlichen Tupel und der algebraischen Zahlen aus der Sicht des späten 19. Jahrhunderts unterschiedliche Komplexität zugewiesen werden muss. Cantor nennt sie „ungefähr“ gleich, was aus heutiger Sicht sicher zutrifft. In ihrer Bedeutung sind beide Resultate Beiboote am großen Schiff der Überabzählbarkeit.
Bemerkenswerterweise ist das Phänomen der Expertenreaktion in unserem Fall doppelt zu beobachten: Cantor schreibt an Dedekind, dass sich aus der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen im Hinblick auf die Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen ein neuer Beweis des Satzes von Liouville 1844 über die Existenz transzendenter Zahlen ergeben würde. Dedekind hat diese Anwendung übersehen. Er schreibt in seinen Aufzeichnungen:
„Die von mir ausgesprochene Meinung aber, dass die erste Frage nicht zu viel Mühe verdiene, weil sie kein besonderes praktisches Interesse habe, ist durch den von Cantor gelieferten Beweis für die Existenz transzendenter Zahlen (Crelle Bd. 77) schlagend widerlegt.“ [ Noether/Cavaillès 1937 ]
Wenn wir also alles streng aufteilen wollten, müssten wir die Abzählbarkeit der endlichen Tupel Cantor, die Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen Dedekind, das Korollar der Existenz transzendenter Zahlen wiederum Cantor zuschreiben. Den veröffentlichten Beweis der Überabzählbarkeit von ℝ müssten wir bei Dedekind verbuchen, die Fragestellung und den ersten Beweis dagegen bei Cantor. Aus der Sicht des Historikers mag dies korrekt sein, aus der Sicht eines historisch bewussten Mathematikers, der nach der Summe fragt und Beiträge gewichtet, um wichtige Ergebnisse geschichtlich einordnen zu können, erscheint es nach wie vor legitim, die Ergebnisse im Umfeld der Überabzählbarkeit einfach mit dem Namen Cantor zu versehen. Als Kompromiss bietet sich an, die Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen künftig als Satz von Cantor-Dedekind zu bezeichnen. Der Rest des Komplexes bleibt bei Cantor.
Cantor, Georg 1874 Über eine Eigenschaft des Inbegriffes aller reellen algebraischen Zahlen. Journal für die reine und angewandte Mathematik 77 (1874), 258 − 262.
Deiser, Oliver 2008 „In der Unvollkommenheit des ersten Conceptes“−Die Entdeckung der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen. Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 110 (2008), 163 − 175.
Dugac, Pierre 1976 Richard Dedekind et les fondements des mathématiques (avec de nombreux textes inédits). Vrin, Paris.
Ferreirós, José 1993 On the Relation between Georg Cantor and Richard Dedekind. Historia Mathematica 20 (1993), 343 − 363.
–1999 Labyrinths of Thought. A History of Set Theory and its Role in Modern Mathematics. Science Networks. Historical Studies, Volume 23. Birkhäuser, Basel.
Grattan-Guinness, Ivor 1971 The rediscovery of the Cantor-Dedekind correspondence. Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 39 (1974), 104 − 139.
Meschkowski, Herbert / Nilson, Winfried (Hrsg.) 1991 Cantor: Briefe. Springer, Berlin.
Noether, Emmy / Cavaillès, Jean (Hrsg.) 1937 Briefwechsel Cantor − Dedekind. Hermann, Paris.