Cantor an Dedekind, Halle 7. 12. 1873
In den letzten Tagen habe ich die Zeit gehabt, etwas nachhaltiger meine Ihnen gegenüber ausgesprochene Vermutung zu verfolgen; erst heute glaube ich mit der Sache fertig geworden zu sein; sollte ich mich jedoch täuschen, so finde ich gewiss keinen nachsichtigeren Beurteiler, als Sie. Ich nehme mir also die Freiheit, Ihrem Urteile zu unterbreiten, was soeben in der Unvollkommenheit des ersten Konzeptes zu Papier gebracht ist.
Man nehme an, es könnten alle positiven [ reellen ] Zahlen ω < 1 in die Reihe gebracht werden:
(I) ω1, ω2, ω3, …, ωn, …
Auf ω1 folgend sei ωα das nächst größere Glied, auf dieses folgend ωβ das nächst größere, u. s. f. Man setze: ω1 = ω11, ωα = ω21, ωβ = ω31 u. s. f. und hebe aus (I) die unendliche Reihe aus:
ω11, ω21, ω31, …, ωn1, …
In der übrig bleibenden Reihe werde das erste Glied mit ω12, das nächst folgende größere mit ω22 bezeichnet, u. s. f. so hebe man die zweite Reihe aus:
ω12, ω22, ω32, …, ωn2, …
Wird diese Betrachtung fortgesetzt, so erkennt man dass die Reihe (I) sich in die unendlich vielen zerlegen lässt:
(1) ω11, ω21, ω31, …, ωn1, …
(2) ω12, ω22, ω32, …, ωn2, …
(3) ω13, ω23, ω33, …, ωn3, …
…
in jeder von ihnen wachsen aber die Glieder fortwährend von links nach rechts zu; es ist:
ωλk < ωλ + 1k
Man nehme nun ein Intervall (p … q) so an, dass kein Glied der Reihe (1) in ihm liegt; also etwa innerhalb (ω11 … ω21); nun könnten auch etwa sämtliche Glieder der zweiten Reihe, oder der dritten außerhalb (p … q) liegen; es muss jedoch einmal eine Reihe kommen, ich will sagen die kte, bei welcher nicht alle Glieder außerhalb (p … q) liegen; (denn sonst würden die innerhalb (p … q) liegenden Zahlen nicht in (I) enthalten sein, gegen die Voraussetzung); dann kann man ein Intervall (p′ … q′) innerhalb (p … q) fixieren, so dass die Glieder der kten Reihe alle außerhalb desselben liegen; von selbst verhält sich dann (p′ … q′) in gleicher Weise in Bezug auf die vorhergehenden Reihen; im weiteren Verlaufe muss jedoch eine k′te Reihe erscheinen, deren Glieder nicht sämtlich außerhalb (p′ … q′) liegen und man nehme dann innerhalb (p′ … q′) ein drittes Intervall (p″ … q″) an, so dass alle Glieder der k′ten Reihe außerhalb desselben liegen.
So sieht man, dass es möglich ist eine unendliche Reihe von Intervallen zu bilden:
(p … q), (p′ … q′), (p″ … q″), …
von denen jedes die folgenden einschließt und die zu unsern Reihen (1), (2), (3), … sich wie folgt verhalten:
Die Glieder der 1ten, 2ten, …, k − 1ten Reihe liegen außerhalb (p … q).
Die Glieder der kten, …, k′ − 1ten Reihe liegen außerhalb (p′ … q′).
Die Glieder der k′ten, …, k″ − 1ten Reihe liegen außerhalb (p″ … q″)
Es lässt sich nun stets wenigstens eine Zahl, ich will sie η nennen, denken, welche im Innern eines jeden dieser Intervalle liegt; von dieser Zahl η, welche offenbar > 0/< 1, sieht man rasch, dass sie in keiner unserer Reihen (1), (2), …, (n), enthalten sein kann. So würde man, von der Voraussetzung ausgehend, dass alle Zahlen > 0/< 1 in (I) enthalten seien, zu dem entgegengesetzten Resultate gelangt sein, dass eine bestimmte Zahl η > 0/< 1 nicht unter (I) zu finden sei; folglich ist die Voraussetzung eine unrichtige gewesen.
So glaube ich schließlich zu dem Grunde gekommen zu sein, weshalb sich der in meinen früheren Briefen mit (x) bezeichnete Inbegriff nicht dem mit (n) bezeichneten eindeutig zuordnen lässt.
Quelle: Noether/Cavaillès 1937