Vorwort
Der Briefwechsel zwischen Georg Cantor und Richard Dedekind gehört zu den wichtigsten historischen Dokumenten zur Entwicklung der modernen Mathematik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während ihm in mathematikhistorischen Kreisen eine entsprechende Aufmerksamkeit und Wertschätzung zukam und zukommt, erscheint bis heute nur wenig beachtet, dass er auch einen unvergleichlich hohen didaktischen und wissenschaftstheoretischen Gehalt aufweist. In vergleichsweise leicht lesbarer und oft unmittelbar zugänglicher Form lässt sich anhand der Briefe beobachten und im Detail verfolgen:
(a) | die Entstehung des Neuen in der Mathematik, |
(b) | die schrittweise Entwicklung mathematischer Begriffe, |
(c) | das Ringen um die Sprache und einen guten Formalismus, |
(d) | die Formulierung einer mathematischen Frage, |
(e) | die Eigendynamik eines mathematischen Problems, |
(f) | das Finden, Verwerfen, Korrigieren, Vereinfachen und Bewerten von Argumenten, |
(g) | das mathematische Diskutieren in einer Vielzahl von Aspekten, |
(h) | der Weg von der Findung bis zur Veröffentlichung und Wirkung von Ergebnissen, |
(i) | die Beachtung und Nichtbeachtung von wissenschaftlichen Standards, |
(j) | und nicht zuletzt auch die Bedeutung von Charaktereigenschaften und Persönlichkeitsmerkmalen der Menschen, die Mathematik betreiben. |
All dies kann nach der Überzeugung des Autors für diejenigen, die sich mit moderner Mathematik lernend, lehrend und forschend beschäftigen, interessant und gewinnbringend sein. Dabei sind die Briefe auch rein inhaltlich von hohem Interesse. Es geht um Unendlichkeit, das „Wesen“ der reellen Zahlen, die Bedeutung der Stetigkeit. Die Briefe ermöglichen zudem einen Einstieg in das Werk von Cantor und Dedekind mit seiner enormen Wirkung für das heutige Gesamtbild der Mathematik.
Eine vollständige und philologischen Standards genügende Sammlung des Briefwechsels zwischen Cantor und Dedekind liegt bislang nicht vor, und auch das Ziel der vorliegenden Sammlung ist es nicht, diesen (bedauerlichen) Mangel zu beheben. Angestrebt wird eine einfache Leseausgabe, die Studenten, Doktoranden und Dozenten der Mathematik einen hinreichend umfangreichen Teil des Briefwechsels zur Verfügung stellt. Sie soll sich für das Eigenstudium ebenso eignen wie als Grundlage für Seminare. Am erfreulichsten wäre es, wenn sie zum Ausgangspunkt wird für ein genaueres Studium der Arbeiten von Cantor und Dedekind und allgemeiner der Geschichte der Mathematik im 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Die Auswahl der Briefe konzentriert sich (vorerst) auf den aus mathematischer Sicht nach wie vor interessantesten Teil des Briefwechsels, den Emmy Noether und Jean Cavaillès 1937 in einem heute nur schwer zugänglichen schmalen Band herausgegeben haben. Bei der Wiedergabe der Texte wurde Rechtschreibung, Interpunktion und Satzbild behutsam angepasst. Wie schon oben betont möchte der Text kein erster Schritt zu einer kritische Edition sein. Wenn er dazu beiträgt, eine solche in Angriff zu nehmen, so ist dies mehr als willkommen.
München, im September 2016
Oliver Deiser