2.10Wurzeln und rationale Exponenten

Definition (n-te Wurzel)

Für alle n ≥ 1 und alle reellen Zahlen x ≥ 0 heißt das eindeutige y ≥ 0 mit yn = x die n-te Wurzel von x, in Zeichen

y  =  nx.

Für n = 2 heißt 2x = x auch die (positive) Quadratwurzel von x.

eha1-AbbID87a
eha1-AbbID87b

Vergrößerter Ausschnitt des obigen Diagramms

eha1-AbbID87c

nn für n = 1, …, 25

(vgl. hierzu auch 6.5)

Beispiele

(1)

n0  =  0,  n1  =  1,  nxn  =  x.

(2)

20,1  ∼  0,32,  30,1  ∼  0,46,  40,1  ∼  0,56,  100,1  ∼  0,79.

(3)

21,1  ∼  1,05,  31,1  ∼  1,03,  41,1  ∼  1,02,  101,1  ∼  1,01.

(4)

Ist w = 3x, so ist 4w = 12x und w2 = 3x2.

 Die obige Definition beruht auf:

Satz (Existenz von Wurzeln)

Für alle n ≥ 1 und alle x ≥ 0 existiert ein eindeutiges y ≥ 0 mit yn = x.

 Die Existenz von Wurzeln für positive reelle Zahlen ist eine Konsequenz des Vollständigkeitsaxioms. Hierzu eine Überlegung:

Die auf die nichtnegative Halbachse eingeschränkte n-te Potenz f : [ 0, +∞ [  , f (x) = xn für alle x ≥ 0, ist streng monoton steigend und damit insbesondere injektiv. Also besitzt f eine Umkehrfunktion g : [ 0, +∞ [   und g ist dann offenbar die n-te Wurzelfunktion. Was ist hier überhaupt noch zu beweisen?

Wir spiegeln die n-te Potenz f auf [ 0, +∞ [ an der Winkelhalbierenden und erhalten die n-te Wurzel g. Das ist richtig, aber das Argument enthält eine Lücke. Es gilt g : Bild(f)  , aber es ist nicht klar, dass Bild(f) das Intervall [ 0, +∞ [ ist. Dies ist gerade zu zeigen! Richtig ist, dass der Zwischenwertsatz die Existenz von Wurzeln als Geschenk mitbringt. Wissen wir, dass eine auf einem Intervall definierte stetige Funktion, die zwei verschiedene Werte annimmt, auch jeden Wert zwischen diesen beiden Werten annimmt, so ist Bild(f) = [ 0, +∞ [, da f die Werte 0n, 1n, 2n, 3n, … annimmt. Damit ist [ 0, +∞ [ der Definitionsbereich von g. (Den Zwischenwertsatz besprechen wir in 5. 8. Einen direkteren Beweis der Existenz von Wurzeln skizzieren wir in 3. 4.)

 Die Potenzfunktionen mit ungeraden Exponenten bilden  bijektiv auf  ab, und wir können so die dritte, fünfte, siebte etc. Wurzelfunktion nicht nur auf [ 0, +∞ [, sondern sogar auf ganz  erklären und zum Beispiel 532 = −2 schreiben. Im Allgemeinen werden in der Analysis aber die Wurzelfunktionen auf [ 0, +∞ [ oder sogar nur auf ] 0, +∞ [ betrachtet. Dies führt zu allgemeingültigen Rechenregeln. Wir können zum Beispiel für w = 5x nicht 2w = 10x rechnen, wenn x negativ ist.

 Beim Umgang mit Wurzeln entdeckt man, dass das Wurzelziehen die Rechenregeln für die Exponentiation respektiert, wenn wir die n-te Wurzel als Exponent 1/n lesen. So gilt etwa x · x = x, was x1/2 · x1/2 = x1/2 + 1/2 = x1 = x entspricht. Wir definieren:

Definition (Potenzfunktion für rationale Exponenten)

Für alle reellen Zahlen a > 0 und alle q = m/n  ∈   mit m  ∈   und n ≥ 1 setzen wir:

aq  =  nam.

Ist m > 0, so setzen wir weiter 0q = 0.

 Diese Definition respektiert das Kürzen von Brüchen und ist also wohldefiniert. Es gelten die Rechengesetze der Exponentiation:

a− q  =  1/aq,  aq ar  =  aq + r,  (aq)r  =  aq r  für alle a > 0 und alle q, r  ∈  .

 Zusammenfassend halten wir fest:

In jedem Körper lässt sich eine Exponentiation für ganzzahlige Exponenten definieren.

Die Vollständigkeit von  ermöglicht eine Exponentiation für rationale Exponenten.

 Neugierig fragen wir:

Kann man nicht auch beliebige reelle Exponenten zulassen?

Dies ist in der Tat möglich, und es stehen zwei verschiedene Wege hierzu offen:

Erste Möglichkeit:  Stetige Fortsetzung

Definieren wir fa :    durch fa(q) = aq für alle q  ∈  , so ist fa streng monoton steigend für a > 1, konstant gleich 1 für a = 1 und streng monoton fallend für 0 < a < 1. Dies motiviert die folgende Definition von ax für alle a > 0 und x  ∈  :

ax=sup({aq|q<x})falls a>1,1falls a=1,inf({aq|q<x})falls 0<a<1.

Zweite Möglichkeit:  Einsatz der Exponentialfunktion zur Basis e

Mit Hilfe der Exponentialfunktion exp :    und des Logarithmus log : ] 0, +∞ [   zur Basis e definiert man ax = exp(x log(a)) für alle a > 0 und x  ∈  .

 Beide Wege sind äquivalent. Wir besprechen sie in 5. 7 und 6. 5 noch genauer. Oft wird heute aufgrund der überragenden Bedeutung der Exponentialfunktion in der Mathematik und den Naturwissenschaften der zweite Weg beschritten.