2.12Umgang mit komplexen Zahlen

Satz (geometrische Deutung der komplexen Multiplikation)

Seien z1, z2 komplexe Zahlen, und sei w = z1 z2. Dann ist die Länge des Vektors w das Produkt der Längen der Vektoren z1 und z2. Der Winkel, den w im Gegenuhrzeigersinn mit der positiven x-Achse einschließt, ist die Summe der entsprechenden Winkel von z1 und z2.

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|w| = |z1| |z2|

arg(w) = arg(z1) + arg(z2)

Kurz:

Zwei komplexe Zahlen werden multipliziert,

indem man ihre Längen multipliziert und ihre Winkel addiert.

 Mit dieser geometrischen Multiplikationsregel haben wir der Vektoraddition eine ebenso anschauliche Deutung der komplexen Multiplikation an die Seite gestellt. Sie ist beim Umgang mit komplexen Zahlen äußerst hilfreich und erlaubt es, vergessene Formeln für komplexe Zahlen leicht rekonstruieren zu können. In einem systematischen Aufbau der Analysis wird diese Regel oft erst recht spät etabliert, da man dort Winkel nicht voraussetzen, sondern mit analytischen Methoden definieren möchte. Insofern erfordert die Verwendung der Multiplikationsregel an dieser Stelle eine „Winkelanleihe“ bei der Geometrie. Man darf sie, wenn man der rein analytischen Einführung geometrischer Grundbegriffe folgen möchte, vorerst nicht in Beweisen verwenden. Aber kennen und heuristisch verwenden darf man sie auch dann!

 Bevor wir Beispiele für den Einsatz der Regel diskutieren, wollen wir die Begriffe „Länge“ und „Winkel“ noch etwas genauer betrachten.

 Die Länge oder der Betrag |z| einer komplexen Zahl z = (x, y)  ∈  2 ist die euklidische Länge von z:

|z|  =  x2+y2.  (Länge oder Betrag von z)

Es gilt also

|0|  =  0,  |i| =  1,  |(1, 1)|  =  |1 + i|  =  2,  usw.

 Den Winkel oder das Argument arg(z) einer komplexen Zahl z ≠ 0 übernehmen wir hier aus der Geometrie. Wir messen Winkel im Bogenmaß und vereinbaren arg(z)  ∈  [ 0, 2 π [. Wir rechnen oft stillschweigend modulo 2π, sodass der Winkel 3/2 π gleich dem Winkel − π/2 ist. Es gilt

arg(1)  =  0,  arg(i)  =  π/2,  arg(−1)  =  π,  arg(− i)  =  3/4 π.

Der komplexen Zahl 0 wird in der Regel kein Winkel zugeordnet, aber sie bereitet auch keinerlei Schwierigkeiten bei der Multiplikation, da z 0 = 0 für alle z gilt. Wir können sie also hier außer Acht lassen oder arg(0) = 0 setzen.

Beispiele

(1)

Oben hatten wir gesehen, dass i z einer Drehung von z um π/2 entspricht. Dies ist ein Spezialfall der allgemeinen Regel, denn es gilt |i| = 1 und arg(i) = π/2.

(2)

Für alle z = (x, y) = x + i y heißt

z  =  (x, − y)  =  x − i y  =  Re(z)  −  i Im(z)

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die komplex Konjugierte von z. Geometrisch entspricht die Konjugation der Spiegelung des Vektors z an der x-Achse. Es gilt

z z  =  |z|2  ∈  [ 0, +∞ [.  (Längenregel für )

Denn es gilt |z| = |z|, sodass |z z| = |z| |z| = |z||z| = |z|2. Weiter ist

arg(z) = 2 π − arg(z), also arg(z z) = arg(z) + arg(z) = 0 modulo 2 π.

(3)

Für alle komplexen Zahlen z ≠ 0 gilt

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1z  =  z¯|z|2 .  (Inversenregel für )

Denn für w = z/|z| gilt

|w|  =  |z|/|z|2  =  1/|z|, 

arg(w)  =  2 π − arg(z).

Damit hat z w Länge 1 und Argument 0. Also ist w z = 1, d. h. w = 1/z.

(4)

Ähnlich wie in (2) und (3) kann man sehen, dass für alle z  ∈   gilt:

Re(z)  =  (z + z)/2,  Im(z)  =  (− i) (z − z)/2  =  (z  −  z)/(2 i).

(5)

Sei w = (1, 1)/2. Dann hat w die Länge 1 und den Winkel π/4. Folglich ist

w2 = i und also eine Lösung der Gleichung z2 − i = 0.

(6)

Sei n ≥ 1 und seien ζ0, …, ζn − 1 die Vektoren des Einheitskreises mit den Winkeln 0, 1/n · 2 π, 2/n · 2 π, …, (n − 1)/n · 2 π. Dann gilt

ζkn  =  1  für alle 0 ≤ k ≤ n − 1,

denn |ζkn| = |ζk|n = 1n = 1 und modulo 2π ist

arg(ζkn)  =  n · arg(ζk)  =  n · k/n · 2 π  =  k 2 π.

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Die siebten Einheitswurzeln

Die ζk lösen also die Gleichung zn = 1. Da diese Gleichung höchstens n Lösungen hat, sind die ζk alle Lösungen der Gleichung. Man nennt ζ0, …, ζn − 1 die n-ten Einheitswurzeln. Geometrisch bilden sie ein gleichseitiges n-Eck und führen einen Spezialfall des Fundamentalsatzes vor Augen.