2.7Die Vollständigkeit

Definition (vollständig angeordneter Körper)

Sei K ein angeordneter Körper. Dann heißt K (linear) vollständig, falls gilt:

(K16)  Ist X ⊆ K nichtleer und nach oben beschränkt, so existiert sup(X) in K.

Gibt es eine nichtleere und nach oben beschränkte Menge X ⊆ K, die kein Supremum in K besitzt, so heißt K unvollständig.

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Unvollständigkeit: Jede obere Schranke von X lässt sich noch verkleinern.

 In einem vollständig angeordneten Körper können wir also „s = sup(X)“ immer bilden, abgesehen von der leeren Menge und Mengen, die gar keine obere Schranke besitzen. Automatisch existiert dann auch „s = inf (X)“, falls X nichtleer und nach unten beschränkt ist, denn inf (X) = sup({ s  ∈  K | s ≤ X }).

Beispiele

(1)

ist (per Konstruktion oder per Axiom) vollständig.

(2)

ist unvollständig: Die Menge X  =  { q  ∈   | q2 < 2 } ist nichtleer und nach oben beschränkt (da z. B. X ≤ 2), besitzt aber aufgrund der Irrationalität von 2 kein Supremum in .

(3)

𝔸 ist unvollständig: Die Menge

X  =  { 3;  3,1;  3,14;  3,141;  3,1415;  … }

ist nichtleer und nach oben beschränkt (da z. B. X ≤ 4), besitzt aber aufgrund der Transzendenz von π kein Supremum in 𝔸.

 Die Aussage (K16) heißt auch das (lineare) Vollständigkeitsaxiom. Es ist das letzte der Axiome in unserer Zusammenstellung. Es gilt nämlich:

Satz (Existenz- und Eindeutigkeitssatz)

Es gibt bis auf Isomorphie genau einen vollständig angeordneten Körper.

 Einen vollständig angeordneten Körper nennt man einen Körper der reellen Zahlen. Jeder solche Körper kann als „“ dienen. In Einführungen in die Analysis wird oft auf einen Beweis des Existenz- und Eindeutigkeitssatzes verzichtet. Man nimmt  als gegeben an und notiert:

ist mit den Grundrechenarten und einer Ordnung ausgestattet und erfüllt die Axiome (K1) − (K16). Alle weiteren Eigenschaften von  lassen sich hierauf zurückführen und beruhen nicht auf speziellen Darstellungen oder Konstruktionen der reellen Zahlen.

 Die Überabzählbarkeit von  haben wir mit Hilfe von Dezimaldarstellungen bewiesen. Aber auch Dezimaldarstellungen können aus den Axiomen gewonnen werden (vgl. 2.8), sodass der Beweis doch auf den Axiomen beruht. Man kann alternativ auch direkt zeigen, dass ein Körper der reellen Zahlen überabzählbar sein muss. Das Vollständigkeitsaxiom zwingt uns, mit einer Menge  zu arbeiten, die viel, viel, viel größer ist als  oder 𝔸.

 Eine wichtige Konsequenz der Vollständigkeit von  ist:

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Archimedische Anordnung: Die Vielfachen x, 2 x, 3 x, … n x, … eines positiven x überspringen jedes positive y.

Satz (archimedische Anordnung von )

Für alle x, y > 0 gibt es ein n mit n x > y.

 Aus dem Satz folgt, dass infn ≥ 1 x/n = 0 für alle x > 0 gilt und dass  dicht in  ist, d. h., für alle reellen Zahlen x < y existiert eine rationale Zahl q mit x < q < y.

 Ein positives Element eines angeordneten Körpers, das kleiner als 1, 1/2, 1/3, 1/4, … ist, heißt infinitesimal. Historisch spielten diese Größen eine wichtige Rolle, man denke nur an die Bezeichnung „Infinitesimalrechnung“. Der im 19. Jahrhundert etablierte Aufbau der Analysis auf der Basis von (K1) − (K16) zeigte, dass man die Differential- und Integralrechnung auch ohne infinitesimale Größen entwickeln kann. Heute leben diese Größen in der sog. Nonstandard-Analysis weiter, und dort ist eine Infinitesimalrechnung im eigentlichen Sinne möglich.

 Es gibt viele äquivalente Varianten des Axioms (K16). Oft wird es durch das sog. metrische Vollständigkeitsaxiom (K16)′ ersetzt, das besagt, dass jede Cauchy-Folge konvergiert (vgl. 3. 5). Man kann dann allerdings die archimedische Anordnung nicht mehr beweisen und muss sie als weiteres Axiom (K17) mit hinzunehmen.

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Ein Intervall I in K enthält mit je zwei Punkten x < y auch alle Punkte z zwischen x und y. Dass es keine anderen beschränkten Intervalle als die Intervalle der vier Grundformen ] a, b [, [ a, b [, ] a, b ], [ a, b ] gibt, ist äquivalent zur Vollständigkeit.

 Auch „supremumslose“ Versionen von (K16) sind möglich. Wie üblich sind für a, b  ∈  K

] a, b [,  [ a, b [,  ] a, b ],  [ a, b ]

definiert, etwa [ a, b [ = { x  ∈  K | a ≤ x < b }. Allgemein heißt ein I ⊆ K ein Intervall, falls für alle x < y in I gilt, dass [ x, y ] ⊆ I. Wir schreiben X ≤ Y für X, Y ⊆ K, falls x < y für alle x  ∈  X und y  ∈  Y. So ist z. B. [ −1, 0 ] ≤ [ 0, 1 ]. Es gilt nun:

Satz (Varianten des Vollständigkeitsaxioms)

Sei K ein angeordneter Körper. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent:

(a)

(K16)

(b)

Jedes beschränkte Intervall I ⊆ K hat die Form ] a, b [, [ a, b [, ] a, b ] oder [ a, b ].

(c)

Für alle nichtleeren Intervalle I ≤ J in K existiert ein s mit I ≤ s ≤ J.