4.12 Die Exponentialreihe
Definition (Exponentialreihe)
Für alle x ∈ ℝ heißt die Reihe ∑n xn/n! die Exponentialreihe für x.
Die ersten 60 Partialsummen von exp(30)
Die ersten 120 Partialsummen von exp(60)
Die ersten 120 Summanden von exp(60)
Die Exponentialreihe wird oft als die wichtigste Reihe der Analysis bezeichnet, und dieser Rang wird ihr allenfalls von der geometrischen Reihe streitig gemacht. Vieles, was wir gemacht haben, haben wir auch deswegen gemacht, um die Exponentialreihe zu verstehen. Und vieles, was wir tun werden, wird auf der Exponentialreihe beruhen, etwa die Definitionen von xy, log, sin und cos. Sie ist mehr als ein roter Faden der Analysis. Sie ist ein dickes rotes Seil.
Das Quotientenkriterium zeigt, dass die Exponentialreihe für alle x absolut konvergiert. Denn für alle x und n gilt
|xn + 1/(n + 1) !xn/n !| = |x|n + 1
und der rechte Term strebt gegen 0, falls n gegen unendlich strebt.
Wir haben diesmal nicht nur eine Reihe betrachtet, sondern wir haben für jede reelle Zahl x eine konvergente Reihe vorliegen. Dies gibt Anlass zur Definition einer Funktion:
exp : ℝ → ℝ, exp(x) = ∑n xn/n ! für alle x.
Die Exponentialfunktion exp : ℝ → ℝ werden wir in 6. 3 genauer untersuchen und dann an zahlreichen Stellen einsetzen.
Die Exponentialreihe lässt sich auch zur Definition von e verwenden. Man setzt:
e = exp(1) = ∑n 1/n! = 1 + 1 + 1/2 + 1/6 + 1/24 + 1/120 + … (Eulersche Zahl)
Die ersten Partialsummen der Reihe ∑n 1/n ! sind:
1; 2; 5/2 = 2,5; 8/3 = 2,6; 65/24 = 2,7083; 163/60 = 2,716
Genauer gilt e = 2,718281828459045… Die Eulersche Zahl ist transzendent (vgl. 2. 2).
Die Exponentialreihe lässt sich auch in den komplexen Zahlen definieren. Hierzu übertragen wir die Theorie der Reihen nach ℂ. Eine komplexe Reihe ∑n zn ist gegeben durch eine Folge (zn)n ∈ ℕ in ℂ. Wir definieren sie wieder als Partialsummenfolge, d. h., es gilt
∑n zn = (sn)n ∈ ℕ = (∑k ≤ n zk)n ∈ ℕ. (∑n zn als Folge von Partialsummen)
Existiert der Grenzwert limn sn = s ∈ ℂ der Partialsummen, so heißt die komplexe Zahl s die Summe der Reihe ∑n zn und wir schreiben
∑n zn = s. (∑n zn als Grenzwert) |
Konvergiert ∑n zn, so gilt limn |zn| = 0.
Beispiel
Die komplexe geometrische Reihe für z = 0,03 + i 0,99.
Es gilt 1/(1 − z) ∼ 0,504945 + i 0,515357.
Für die geometrische Reihe gilt auch in ℂ:
∑k ≤ n zk = 1 − zn + 11 − z, falls z ≠ 1,
∑n zn = 11 − z, falls |z| < 1.
∑n ≥ 1 zn divergiert für |z| ≥ 1, da dann die Beträge der Summanden wegen |zn| = |z|n keine Nullfolge bilden.
Ebenso gelten das Cauchy-Kriterium, das Majoranten- und Minorantenkriterium und die durch Majorisierung durch eine geometrische Reihe gewonnenen Kriterien, also das Wurzel- und Quotientenkriterium. In diesen Kriterien wird die reellwertige Betragsfunktion auf ℂ eingesetzt, sodass wir zum Beispiel die Wurzelbedingung
„n ≤ q für alle n ≥ n0, mit einem q < 1“
übernehmen können, ohne uns über komplexe Wurzeln Gedanken zu machen. Auch nennen wir eine Reihe ∑n zn in ℂ wieder absolut konvergent, wenn ∑n |zn| konvergiert. Absolut konvergente Reihen in ℂ können beliebig umgeordnet werden und es gelten die Ergebnisse über die Produktbildung. Die Exponentialreihe in ℂ wird wie für ℝ definiert:
Definition (komplexe Exponentialreihe)
Für alle z ∈ ℂ heißt die Reihe ∑n zn/n! die komplexe Exponentialreihe für z.
Die komplexe Exponentialreihe konvergiert für alle z ∈ ℂ gegen eine komplexe Zahl. Die zugehörige komplexe Exponentialfunktion
exp : ℂ → ℂ, exp(z) = ∑n zn/n ! für alle z ∈ ℂ,
werden wir in 6. 7 genauer betrachten. Zu den reellen Wachstumseigenschaften kommen ganz neuartige Dreheigenschaften hinzu, die dazu führen, dass sich die Exponentialfunktion zur Definition der trigonometrischen Funktionen und der Kreiszahl π eignet.