5.3 Unstetigkeiten
Satz (Unstetigkeit in einem Punkt)
Sei f : ] a, b [ → ℝ eine Funktion mit −∞ ≤ a < b ≤ +∞, und sei p ∈ ] a, b [. Dann ist f genau dann unstetig im Punkt p, wenn einer der drei folgenden Fälle zutrifft:
Unstetigkeit der Art 1a
limx → p, x ≠ p f (x) = y existiert, aber es gilt f (p) ≠ y.
Unstetigkeit der Art 1b
limx ↑ p f (x) = y1 und limx ↓ p f (x) = y2 existieren, aber es gilt y1 ≠ y2.
Unstetigkeit der Art 2
limx ↑ p f (x) existiert nicht oder limx ↓ p f (x) existiert nicht.
Art 1 a
Art 1 b
Art 2
Der Satz ist im Wesentlichen nur die Verneinung der Limesdefinition der Stetigkeit. Dennoch sind die Unstetigkeitsphänomene so vielfältig, dass sie eine eigene Betrachtung verdienen, und der Satz erlaubt eine Klassifikation des Typs der Unstetigkeit.
Wir betrachten zunächst die Art 1a. Hier existiert limx → p, x ≠ p f (x) = y, aber die Funktion f verhält sich an der Stelle p selbst bockig. Sie tut dort nicht, was sie tun sollte.
Beispiel für Art 1a
Sei f : ℝ → ℝ die Funktion mit f (x) = 1/2 für alle x ≠ 0 und f (0) = 1. Dann ist 0 eine Unstetigkeitsstelle der Art 1a, da für jede Folge (xn)n ∈ ℕ in ℝ − { 0 } mit limn xn = 0 gilt, dass limn f (xn) = 1/2 ≠ 1 = f (0). Ändern wir f an der Stelle 0 ab und setzen wir dort 1/2 als neuen Wert ein, so erhalten wir eine im Nullpunkt stetige Funktion.
Bei einer Unstetigkeit der Art 1 b existieren zwar der links- und der rechtsseitige Grenzwert, aber sie sind verschieden. In diesem Fall führt dann auch keine Abänderung der Funktion an der Stelle p mehr zur Stetigkeit im Punkt p.
Beispiel für Art 1b
Sei sgn : ℝ → ℝ die Vorzeichenfunktion Signum mit
sgn(x) = −1 für x < 0, sgn(0) = 0, sgn(x) = 1 für x > 0.
Dann hat sgn eine Unstetigkeitsstelle des Typs 1 b im Nullpunkt, da
limx ↑ 0 sgn(x) = −1 ≠ 1 = limx ↓ 0 sgn(x).
Man kann die Funktion dieses Beispiels nicht als bockig bezeichnen, denn der Wert sgn(0) = 0 ist der Mittelwert der Grenzwerte bei Annäherung von links bzw. von rechts. Die Funktion ist unstetig, aber sie tut ihr Bestes, um die Ansprüche von links und von rechts auszugleichen. Diese „vermittelnde Unstetigkeit“ taucht zum Beispiel in der Theorie der Fourier-Reihen auf.
Die Unstetigkeiten erster Art sind durch die Existenz der links- und rechtsseitigen Grenzwerte ausgezeichnet. Komplizierter sind die Unstetigkeiten zweiter Art, für die einer der beiden Grenzwerte nicht existiert:
Beispiel für Art 2
Sei h : ℝ → ℝ definiert durch
h(x) = sin(1/x) für x ≠ 0, h(0) = 0.
Dann ist 0 eine Unstetigkeitsstelle der zweiten Art. Für alle c ∈ ] −1, 1 [ existiert eine Nullfolge (xn)n ∈ ℕ in ] 0, +∞ [ mit limn h(xn) = c. Damit existiert limx ↓ 0 h(x) nicht. Analoges gilt für die Annäherung von links.
Wir betrachten nun noch Funktionen, die sehr viele Unstetigkeitsstellen besitzen.
Beispiele für viele Unstetigkeitsstellen
(1) | Die Dirichletsche Sprungfunktion f : ℝ → ℝ ist definiert durch f (x) = 1, falls x rational, f (x) = 0, falls x irrational. Diese Funktion besitzt in allen p ∈ ℝ eine Unstetigkeitsstelle der zweiten Art, da sowohl Folgen in ℚ als auch Folgen in ℝ − ℚ existieren, die gegen p konvergieren. |
(2) | Ist g : ℝ → ℝ definiert durch g(x) = x, falls x rational, und g(x) = − x, falls x irrational, so ist f im Nullpunkt stetig und in allen anderen Punkten unstetig. |
(3) | Sei h : ℝ → ℝ definiert durch h(x) = 0, falls x irrational, h(m/n) = 1/n für gekürzte Brüche m/n mit n ≥ 1. Dann ist h genau dann stetig in einem Punkt p, wenn p irrational ist. Die Funktion h heißt auch die Thomae-Funktion. |
Dagegen kann man zeigen, dass es keine Funktion gibt, die genau in allen rationalen Punkten stetig ist. Vieles ist möglich im Reich der Unstetigkeit, aber nicht alles !