5.4Die Umgebungsstetigkeit

Definition (Umgebungsstetigkeit oder ε-δ-Stetigkeit)

Sei f : P  . Dann heißt f umgebungsstetig oder ε-δ-stetig in einem p  ∈  P, falls gilt:

∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀x  ∈  P (|x − p| < δ    |f (x) − f (p)| < ε). (ε-δ-Bedingung)

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δ ist gut für ε:

Alle Punkte in ] p − δ, p + δ [ landen in ] f (p) −  ε, f (p) + ε [.

 Da ist sie wieder, die Epsilontik! Diesmal ist die Bedingung aber anders gebaut als die Konvergenzbedingung für Folgen. Nun sind zwei positive reelle Variablen ε und δ im Spiel, natürliche Zahlen sind dagegen nicht involviert. Die Variable ε betrifft Abstände von Funktionswerten, die Variable δ Abstände von Stellen. Wir halten also fest:

Die ε-Variable lebt auf der y-Achse, die δ-Variable lebt auf der x-Achse.

Dem Allquantor über ε folgt ein Existenzquantor über δ. Wollen wir die ε-δ-Stetigkeit von f in p zeigen, so müssen wir also für ein beliebiges ε > 0 ein „gutes“ δ > 0 finden, das im Allgemeinen von ε abhängen wird. Das kennen wir schon von der Konvergenzbedingung für Folgen, wo wir für jedes ε > 0 ein gutes n0 finden mussten. Dort verlangten kleine ε nach großen n0. Die Faustregel lautet dagegen jetzt: Kleine ε lieben kleine δ. Unser δ muss derart sein, dass alle Punkte in ] p − δ, p + δ [ durch f nach ] f (p) − ε, f (p) + ε [ transportiert werden. Das lokale Wachstumsverhalten der Funktion f bestimmt die Größe von δ. Je stärker sich f in der Nähe von p verändert, desto kleiner ist δ zu wählen. Typische Werte für ein gegebenes ε sind δ = ε, δ = ε/2, δ = ε2 usw.

Beispiel

Sei f :    mit f (x) = 1010 x für alle x. Wir zeigen die ε-δ-Stetigkeit von f im Punkt p = 0. Sei also ε > 0 beliebig. Wir setzen δ = ε/1010. Dieses δ ist gut für ε. Denn sei x  ∈   mit |x − 0| = |x| < δ. Dann gilt

|f (x) − f (0)|  =  |1010 x − 0|  =  |1010 x|  <  1010 δ  =  ε.

Das Argument für die Limesstetigkeit lautet dagegen

lim 0 f (x)  =  lim 0 1010 x  =  0  =  f (0).

 Will man zeigen, dass eine Funktion f in p nicht ε-δ-stetig ist, so zeigt man:

∃ε > 0 ∀δ > 0 ∃x  ∈  P (|x − p| < δ  ∧  |f (x) − f (p)| ≥ ε).  (negierte ε-δ-Bedingung)

Neben den Verneinungsregeln für Quantoren aus 1. 10 haben wir hier benutzt, dass eine Aussage ¬ (A  B) äquivalent zu A ∧ ¬ B ist (vgl. Anhang 1).

 Unsere beiden Stetigkeitsbegriffe sind, so verschieden sie sich anfühlen mögen, punktweise äquivalent:

Äquivalenz der Stetigkeitsbegriffe

Sei f : P   und sei p  ∈  P. Dann ist f im Punkt p genau dann limesstetig, wenn f im Punkt p umgebungsstetig ist.

 Dass wir zwei auf den ersten Blick recht verschiedene Formulierungen gefunden haben, die sich als äquivalent herausstellen, ist ein Indiz dafür, einen natürlichen und wichtigen mathematischen Begriff gefunden zu haben. Prinzipiell kann man sich immer aussuchen, mit welcher Version man arbeiten möchte. Dennoch ist es wichtig, beide Versionen zu kennen. Die ε-δ-Stetigkeit gibt, wie wir in den nächsten Sektionen sehen werden, Anlass zu den starken Formen der gleichmäßigen Stetigkeit und der Lipschitz-Stetigkeit, die in der Analysis als gute Voraussetzung oft eine zentrale Rolle spielen.

 Die ε-δ-Bedingung lässt sich mit Umgebungen sehr ansprechend formulieren. Wir verwenden dabei ε-Umgebungen von f (p) und δ-Umgebungen von  p:

Vε(f (p))  =  { y  ∈   | |y − f (p)| < ε },

  Uδ(p)  =  { x  ∈   | |x − p| < δ }.

Umgebungsformulierung der ε-δ-Stetigkeit

Für jede ε-Umgebung Vε(f (p)) von f (p) existiert eine δ-Umgebung Uδ(p) von p mit

f[ Uδ(p) ∩ P ]  =  { f (x) | x  ∈  Uδ(p) ∩ P }  ⊆  Vε(p).

Kurz: Im Urbild jeder ε-Umgebung von f (p) findet sich eine δ-Umgebung von p.

 Diese Formulierung ist die Grundlage für den allgemeinen Stetigkeitsbegriff der Topologie. Sobald „Umgebung eines Punktes“ erklärt ist, kann die Stetigkeit einer Funktion erklärt werden.

Definition und Anschauung

Beide Formulierungen der Stetigkeit unterstützen die Anschauungen:

(I)  Eine stetige Funktion macht keine Sprünge.

(II)  Die Funktionswerte f (x) einer stetigen Funktion ändern sich wenig,

wenn sich die Stellen x hinreichend wenig ändern.

Dabei scheint die Limesstetigkeit die direktere Übersetzung von (I), die Umgebungsstetigkeit die direktere Übersetzung von (II) zu sein. Dagegen unterstützt der entwickelte Stetigkeitsbegriff keineswegs, dass die stetigen Funktionen diejenigen Funktionen sind, die wir mit dem Stift ohne abzusetzen zeichnen können. Sicher sind diese zeichenbaren Funktionen stetig, aber der Stetigkeitsbegriff lässt weit mehr stetige Funktionen zu. Es gibt zum Beispiel stetige Funktionen, die in keinem Punkt differenzierbar sind. Derartige Funktionen kann man nicht zeichnen. Ein Beispiel werden wir in Sektion 7. 5 kennenlernen.