5.8 Der Zwischenwertsatz
Satz (Zwischenwertsatz)
Seien f : [ a, b ] → ℝ stetig und y ∈ ℝ. Weiter liege y zwischen f (a) und f (b), d. h., es gelte
f (a) ≤ y ≤ f (b), falls f (a) ≤ f (b), und
f (b) ≤ y ≤ f (a), falls f (b) ≤ f (a).
Dann nimmt f den Wert y an, d. h., es existiert ein p ∈ [ a, b ] mit f (p) = y.
Der Zwischenwertsatz ist sicher plausibel: Die Funktion beginnt bei f (a) und endet bei f (b). Da sie aufgrund der Stetigkeit nicht springen darf, muss sie auf dem Weg von a nach b jeden Wert zwischen f (a) und f (b) mindestens einmal annehmen. Der Satz muss aber natürlich bewiesen werden, denn die Anschauung täuscht gerade bei der Stetigkeit oft. De facto ist es die Vollständigkeit der reellen Zahlen, die für die Gültigkeit des Zwischenwertsatzes verantwortlich ist.
Beispiele
(1) | Sei f : [ 0, 2 ] ∩ ℚ → ℝ definiert durch f (q) = q2 − 2. Dann ist f stetig und f (0) = −2 und f (2) = 2. Aber die Funktion nimmt den Wert 0 zwischen f (0) und f (2) nicht an. Denn aus f (p) = p2 − 2 = 0 würde p2 = 2 folgen, was für keine rationale Zahl gelten kann (vgl. 2. 1). |
(2) | Sei g : [ 0, 2 ] ∩ 𝔸 → ℝ definiert durch g(x) = cos(x), wobei 𝔸 die Menge der algebraischen Zahlen sei. Dann ist g stetig und g(0) = 1 und g(2) < 0. Aber die einzige Nullstelle des Kosinus im Intervall [ 0, 2 ] ist die transzendente Zahl π/2 (vgl. 2. 2). Also nimmt g den Wert 0 zwischen g(0) und g(2) nicht an. |
Alle Beweise des Zwischenwertsatzes benutzen also notwendig die Vollständigkeit von ℝ, sei es bei der Bildung eines Supremums, der Bildung des Grenzwerts einer Cauchy-Folge, der Anwendung des Prinzips der Intervallschachtelung oder dergleichen mehr. Mit Hilfe von Suprema lässt sich ein p mit f (p) = y im typischen Fall f (a) < y < f (b) zum Beispiel wie folgt finden:
p = sup({ x ∈ [ a, b ] | f (x) < y }).
Das Supremum existiert, da die Menge nach Voraussetzung den Punkt a enthält. Mit Hilfe der Stetigkeit von f weist man nun nach, dass in der Tat f (p) = y gilt.
Beispiele
(1) | Sei f : [ 0, 1 ] ∪ [ 2, 3 ] → ℝ die Funktion f mit f (x) = 0 für x ∈ [ 0, 1 ] und f (x) = 1 für x ∈ [ 2, 3 ]. Dann ist f stetig und f (0) = 0 < 1 = f (3), aber die Funktion nimmt den Wert 1/2 zwischen 0 und 1 nicht an. Die Voraussetzung, dass f auf einem Intervall definiert ist, ist also wesentlich für die Gültigkeit des Zwischenwertsatzes. |
(2) | Sei f : ℝ → ℝ definiert durch f (x) = x5 + 24 x4 − 7 x3 + x − 10 für alle x ∈ ℝ. Dann gilt limx → ∞ f (x) = +∞ und limx → −∞ f (x) = −∞. Also gibt es ein a < 0 mit f (a) < 0 und ein b > 0 mit f (b) > 0. Da f auf [ a, b ] stetig ist, nimmt f den Wert 0 zwischen f (a) und f (b) an. Allgemein zeigt die Überlegung, dass jedes reelle Polynom ungeraden Grades mindestens eine Nullstelle besitzt. |
(3) | Sei g : [ 0, +∞ [ → ℝ definiert durch g(x) = x2 für alle x ≥ 0. Sei y ≥ 0 beliebig. Dann gibt es ein b mit b2 ≥ y, etwa b = max(1, y). Die Funktion g ist stetig auf [ 0, b ] und y liegt zwischen g(0) und g(b). Also gibt es ein p ∈ [ 0, b ] mit g(p) = p2 = y, d. h., es gilt p = . Allgemein zeigt die Überlegung, dass jedes y ≥ 0 für jedes n ≥ 2 eine n-te Wurzel besitzt. Der Zwischenwertsatz liefert also einen einfachen Beweis für die Existenz von Wurzeln (vgl. 2. 10). |
(4) | Sei f : [ 0, 1 ] → [ 0, 1 ] stetig. Dann besitzt f einen Fixpunkt, d. h., es gibt ein p mit f (p) = p. Sei hierzu g : [ 0, 1 ] → ℝ definiert durch g(x) = f (x) − x für alle x ∈ [ 0, 1 ]. Dann ist g stetig und 0 liegt zwischen g(0) = f (0) ≥ 0 und g(1) = f (1) − 1 ≤ 0. Also gibt es ein p mit g(p) = 0. Dann ist f (p) = g(p) + p = p. Das anschauliche Zusammentreffen von f mit der Diagonale kann also auf den Zwischenwertsatz zurückgeführt werden. Analog gibt es für alle stetigen f : [ 0, 1 ] → [ 0, 1 ] ein p mit f (p) = p2. Man betrachte hierzu g auf [ 0, 1 ] mit g(x) = f (x) − x2. |
(5) | Sind f, g : [ a, b ] → ℝ stetig mit f (a) < g(a), g(b) < f (b), so gibt es ein p mit f (p) = g(p). Man betrachte hierzu h auf [ a, b ] mit h(x) = f (x) − g(x). |