6.12Die Brücke zur Geometrie

Satz (Definitionen der Zahl π)

Die folgenden Definitionen der Zahl π sind äquivalent:

Analytische Definition von π (über die erste Nullstelle des Kosinus)

π/2  =  „das kleinste x > 0 mit cos(x) = 0“.

Analytische Definition von π (über die Periode der komplexen Exponentialfunktion)

2 π  =  „das kleinste y > 0 mit ei y = 1“.

Geometrische Definition von π

2 π  =  limn ≥ 3 Sn,

wobei Sn der Umfang eines in den Einheitskreis einbeschriebenen regelmäßigen n-Ecks ist.

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Für das 17-Eck gilt

2 π − S17 = 2 π − 34 sin(π/17)  =  0,0357017.

 Die geometrische Definition der Kreiszahl π spiegelt den seit Archimedes verwendeten Ansatz wider, den Kreis durch einfache geometrische Figuren zu approximieren. Dagegen basiert die analytische Definition von π auf der komplexen Exponentialfunktion exp :   ,

exp(z)  =  ez  =  n zn/n !  für alle z  ∈  ,

deren Bezug zum Kreis zunächst unklar ist. Er ergibt sich, ohne jede Anleihe bei der Geometrie, in mehreren Schritten.

1. Schritt: Ortung von ei x auf der Kreislinie

Für alle x  ∈   gilt |ei x|  =  1.

Dies ergibt sich (wie wir in 6. 7 schon gesehen hatten) aus exp(−i x) = exp(i x), der allgemeinen Formel z z = |z|2 und dem Additionstheorem:

|ei x|2  =  ei x · e− i x  =  ei x − i x  =  e0  =  1.

Die Exponentialfunktion bildet also die imaginäre Achse stetig auf den Einheitskreis ab. Das ist auf viele Arten möglich und wir können „ei x = 1 für alle x“ noch nicht ausschließen. Für eine genauere Betrachtung verwenden wir die Sinus- und Kosinusfunktion auf :

ei x  =  (cos(x), sin(x))  =  cos(x)  +  i sin(x)  für alle x  ∈  .

Nun können wir ei x für kleine positive x genauer orten:

2. Schritt: Technische Analyse von ei x

Auf dem Intervall [ 0, 2 ] ist der Kosinus streng monoton

fallend und der Sinus ist dort größergleich 0. Weiter gilt

1 − x2/2  <  cos(x)  <  1 − x2/2 + x4/24  für alle x  ∈  ] 0, 2 ].

Insbesondere ist cos(2) < 1 − 4/2 + 16/24 = −1/3 < 0.

Wegen cos(0) = 1 hat der Kosinus nach dem Zwischenwertsatz im Intervall [ 0, 2 ] genau eine Nullstelle, die wir als π/2 bezeichnen. Da ei π/2 = (0, sin(π/2)) ein Punkt des Einheitskreises mit sin(π/2) ≥ 0 ist, ist sin(π/2) = 1 und damit

ei π/2  =  (0, 1)  =  i  und  ei 2 π  =  (ei π/2)4  =  i4  =  1.

Damit ist π analytisch definiert. Die Untersuchung zeigt weiter, dass ei x für x ≥ 0 die Kreislinie gegen den Uhrzeigersinn mit der Periode 2 π durchläuft: Man kann die Monotonieeigenschaften des Kosinus und Sinus aus der technischen Analyse gewinnen, und sie schließen ein kompliziertes Durchlaufen der Kreislinie mit tänzelnden Hin- und Rückbewegungen aus. Es ist aber keineswegs klar, dass 2 π der Kreisumfang ist, wir kennen bislang nur die Abschätzung 0 < π/2 < 2. Die Verbindung zu Archimedes liefert erst der nächste Schritt:

3. Schritt: n-te Einheitswurzeln und n-Eck

Für alle n ≥ 3 spannen ζ0 = e0 · 2 π i/n, …, ζn − 1 = e(n − 1) 2 π i/n

ein regelmäßiges n-Eck mit dem Umfang 2n sin(π/n) auf.

In der Tat gilt sogar für alle ganzen Zahlen k:

|e(k + 1) 2 π i/n − ek 2 π i/n|  =  |e (k + 1/2) 2 π i/n| |eπ i/n − e− π i/n|  =  |2 Im(ei π/n)|  =  2 sin(π/n).

Der von k unabhängige Wert und |ei x| = 1 zeigt, dass die Punkte ζ0, …, ζn − 1 ein regelmäßiges n-Eck aufspannen, und er liefert die Formel für den Umfang. Übrig bleibt:

4. Schritt: Grenzübergang

Es gilt limn ≥ 1 2 n sin(π/n)  =  2 π.

Zum Beweis verwendet man den Grenzwert lim 0 sin(x)/x = 1 (den man zum Beispiel aus der Reihenentwicklung des Sinus gewinnen kann):

limn ≥ 1 2 n sin(π/n)  =  2 π limn ≥ 1 sin(π/n)/(π/n)  =  2 π · 1  =  2 π.

Damit ist die Äquivalenz der Definitionen von π etabliert. Führen wir den dritten und vierten Schritt statt 2 π mit einem x  ∈  [ 0, 2 π [ durch, so erhalten wir, dass der durch 0 und ei x definierte Bogen des Einheitskreises die Länge x hat. Damit ist die geometrische Bedeutung von sin(x) und cos(x) aufgezeigt. Weiter liefert die Formel r1 ei x1 · r2 ei x2 = r1 r2 ei (x1 + x2) die geometrische Multiplikationsregel.