6.3 Die reelle Exponentialfunktion
Definition (Exponentialfunktion)
Wir definieren exp : ℝ → ℝ durch
exp(x) = ∑n xn/n! für alle x ∈ ℝ. (Reihendefinition von exp)
Die Funktion exp : ℝ → ℝ heißt die (reelle) Exponentialfunktion.
exp(x) = ∑n xn/n!, fn = ∑k ≤ n xk/k !
Die Definition lässt sich durch gliedweises Differenzieren motivieren. Sie zielt darauf ab, dass sich die Exponentialfunktion beim Ableiten selbst reproduziert. Die Summanden xn/n ! haben die Ableitung n x(n − 1)/n ! = x(n − 1)/(n − 1) ! Leiten wir also die Exponentialfunktion gliedweise ab, so erhalten wir
exp′(x) = ∑n ≥ 1 x(n − 1)/(n − 1) !
= ∑n xn/n ! = exp(x).
Dieses Vorgehen ist tatsächlich erlaubt (vgl. 7. 6).
Wichtige Eigenschaften der Exponentialfunktion sind:
Stetigkeit | exp ist stetig auf ℝ |
Additionstheorem | exp(x + y) = exp(x) · exp(y) für alle x, y |
Monotonie | exp ist streng monoton steigend |
Wertebereich | Bild(exp) = ] 0, +∞ [ |
Wachstum | limx → ∞ exp(x)/xk = +∞ für alle k ≥ 1 |
Steigung im Nullpunkt | limx → 0, x ≠ 0 (ex − 1)/x = 1 |
Restgliedabschätzung | |∑n ≥ n0 xn/n !| ≤ 2 |x|n0/n0 !, falls n0 ≥ 2 |x| − 1 |
Das Additionstheorem wird auch Funktionalgleichung genannt. Die Wachstumsaussage besagt, dass die Exponentialfunktion schneller wächst als jede Potenz xk. Ein Merkspruch zur technischen Restgliedabschätzung lautet:
Der Fehler ist begrenzt durch das Doppelte des ersten nichtberechneten Gliedes.
Die Bedingung n0 ≥ 2 |x| − 1 ist unterdrückt, was nur für x ∈ [ −1, 1 ] harmlos ist.
Elementare Werte der Exponentialfunktion sind exp(0) = 1 und exp(1) = e.
Warum gilt das Additionstheorem?
In Reihenform besagt das Additionstheorem, dass für alle x, y gilt:
∑n xn/n ! · ∑n yn/n ! = ∑n (x + y)n/n !
Dies zu beweisen sieht auf den ersten Blick hoffnungslos aus, aber es wird alles ganz einfach, wenn wir die linke Seite als Cauchy-Produkt berechnen, was wir aufgrund der absoluten Konvergenz der Reihen dürfen (vgl. 4. 11):
∑n xnn ! · ∑n ynn ! = ∑n ∑k ≤ n xkk ! yn − k(n − k) ! = ∑n (x + y)nn !,
wobei wir im letzten Schritt die binomische Formel verwendet haben:
(x + y)n = ∑k ≤ n n !k ! (n − k) ! xk yn − k für alle n.
Warum ist das Additionstheorem wichtig?
Das Additionstheorem bringt die „exponentielle Natur“ der Exponentialfunktion ans Licht. Schreiben wir nämlich
ex anstelle von exp(x), (Exponentialschreibweise für exp)
so gelten alle üblichen Eigenschaften der Exponentiation und die bereits definierte Exponentiation eq, q ∈ ℚ, wird fortgesetzt. Beispielsweise gilt:
(1) | ex · ey = exp(x) · exp(y) = exp(x + y) = ex + y, |
(2) | (ex)3 = exp(x) · exp(x) · exp(x) = exp(x + x + x) = exp(3 x) = e3 x, |
(3) | ex = exp(x) = exp(x/2 + x/2) = exp(x/2) · exp(x/2) = ex/2 · ex/2, also ex/2 = = (ex)1/2, usw. |
Es gibt eine äquivalente Definition der Exponentialfunktion, die sich durch die Modellierung einer kontinuierlichen Verzinsung motivieren lässt. Erhalten wir 7 % Zinsen auf eine Geldeinheit, so haben wir, wenn wir die Zinsen monatlich ausgezahlt bekommen und gleich wieder mit 7 % anlegen, am Ende des Jahres (1 + 0,07/12)12 Einheiten. Setzen wir 365 statt 12 ein, so entspricht (1 + 0,07/365)365 einer täglichen Verzinsung. Ein Grenzübergang modelliert eine kontinuierliche Verzinsung:
exp(x) = limn ≥ 1 (1 + x/n)n für alle x ∈ ℝ, (Limesdefinition von exp)
e = exp(1) = limn ≥ 1 (1 + 1/n)n. (Limesdefinition von e)
Zur Illustration skizzieren wir noch einen Beweis des Additionstheorems mit Hilfe der Limesdefinition. Für alle x, y ∈ ℝ gilt:
exp(x) · exp(y) = limn ≥ 1 (1 + x/n)n · (1 + y/n)n = limn ≥ 1 (1 + (x + y + x y/n)/n)n = exp(x + y),
wobei wir im letzten Schritt verwenden, dass
exp(x) = limn ≥ 1 (1 + xn/n)n für alle Folgen (xn)n ≥ 1 mit limn ≥ 1 xn = x.