6.8 Bilder der komplexen Exponentialfunktion
Satz (Abbildungseigenschaften der komplexen Exponentialfunktion)
Die komplexe Exponentialfunktion exp : ℂ → ℂ bildet
(a) | jede Senkrechte Sx = { x } × ℝ = { x + i y | y ∈ ℝ } der Ebene surjektiv auf den Kreis Kr = { z ∈ ℂ | |z| = r } mit Radius r = ex > 0 ab. Dabei wird jedes halboffene Geradenstück von Sx der Länge 2 π bijektiv auf Kr abgebildet. |
(b) | jede Waagrechte Wy = ℝ × { y } = { x + i y | x ∈ ℝ } der Ebene bijektiv auf die Halbgerade G = { a ei y | a > 0 } ab, die durch den Punkt ei y des Einheitskreises verläuft, also mit der positiven x-Achse den im Bogenmaß gegen den Uhrzeigersinn gemessenen Winkel y einschließt. |
Der Nullpunkt ist der einzige Punkt der Ebene, der nicht im Wertebereich von exp liegt, d. h., es gilt Bild(exp) = ℂ* = ℂ − { 0 }. Ist z ∈ ℂ und ez = w, so werden genau die Punkte z + k 2 π i, k ∈ ℤ, durch die Exponentialfunktion auf w abgebildet. Ist I ein halboffenes Intervall der Länge 2 π, so gibt es für alle z ≠ 0 eindeutige r > 0 und φ ∈ I mit
z = r ei φ. (Darstellung in Polarkoordinaten r, φ bzgl. des Winkelintervalls I)
Für Funktionen f : ℂ → ℂ steht uns eine einfache graphische Methode nicht mehr zur Verfügung. Die Visualisierung ist schwieriger, aber nicht unmöglich. Wir illustrieren am Beispiel der komplexen Exponentialfunktion, wie man mit der „Geometrie“ oder „Abbildungsdynamik“ von komplexen Funktionen vertraut werden kann.
Der obige Satz folgt aus der in der letzten Sektion diskutierten Kreisaufwicklung der y-Achse und der Abspaltungsregel
ex + iy = ex ei y für alle x, y ∈ ℝ.
Die Wahl von x = 0 bei variablem y führt zu einer Aufwicklung der Senkrechten S0 auf den Einheitskreis K, die Wahl von x ≠ 0 zu einer Aufwicklung von Sx auf den Kreis mit Durchmesser r = ex. Hier gilt r < 1 für x < 0 und r > 1 für x > 0. Analog können wir y festhalten und x als variabel ansehen, also Waagrechte Wy betrachten. Die Anwendung von exp liefert eine vom Ursprung 0 ausgehende Halbgerade G, die durch den Punkt ei y des Einheitskreises verläuft. Der Ursprung gehört dabei nicht zu G. Punkte auf G, die in der Einheitskreisscheibe liegen, entsprechen negativen x, und Punkte auf G außerhalb der Einheitskreisscheibe entsprechen positiven x.
Anschaulich gilt: Verschieben wir eine Senkrechte in der Ebene, so sind die Bilder unter exp sich aufblähende oder zusammenziehende Kreise. Verschieben wir eine Waagrechte in der Ebene, so sehen die Bilder unter exp aus wie die Strahlen eines im Ursprung angebrachten Leuchtturms. Dies können wir auch so formulieren:
Ein Gitter der Ebene wird durch exp in y-Richtung kreisförmig
aufgefächert und in x-Richtung exponentiell gestreckt.
Beispiele
Die folgenden Diagramme visualisieren für reelle Funktionen f : P → ℝ das Bild des Graphen von f unter exp : ℂ → ℂ, d. h. die Menge exp[ { (x, f (x)) | x ∈ P } ].
f (x) = 10 x, x ∈ ] − ∞, π ]
f (x) = exp(x), x ∈ ] − ∞, log(8π) ]
f (x) = exp(exp(x)), x ∈ ℝ
f (x) = 1/x, x ∈ ℝ − { 0 }
f (x) = sin(exp(x)), x ∈ ℝ
f (x) = Sec(2x), x ∈ ] − π/4, π/4 [