1.11 Das Auswahlaxiom
Axiom (Auswahlaxiom von Ernst Zermelo)
Ist 𝒜 eine Menge nichtleerer und paarweise disjunkter Mengen, so gibt es eine Menge B, die mit jedem A ∈ 𝒜 genau ein Element gemeinsam hat.
Eine Auswahlmenge B „pickt“ aus jeder Menge des Systems 𝒜 genau ein Element heraus. Ist 𝒜 endlich, so ist die Existenz von B induktiv beweisbar. Dagegen muss man selbst für Systeme 𝒜, deren Elemente alle zweielementig sind (Systeme von „Sockenpaaren“), im Allgemeinen das Auswahlaxiom heranziehen, um eine Auswahlmenge zu erhalten.
Zwei Zeilen. Unzählige Diskussionen. Und dies seit der Einführung 1908. Das Auswahlaxiom ist das umstrittenste Prinzip der Mathematik. Die Meinungen umfassen:
(a) | Offensichtlich wahr/richtig/korrekt. |
(b) | Nicht akzeptabel. |
(c) | Offensichtlich richtig, aber in seinen Konsequenzen nicht akzeptabel. |
(d) | Einfach notwendig für viele mathematische Unternehmungen. |
(e) | Richtig, aber eine Schwäche der Präsentation der mengentheoretischen Axiome. |
Eine Menge B wie im Auswahlaxiom nennt man auch eine Auswahlmenge für das Mengensystem 𝒜. Das System wird als eine Zerlegung von A = ⋃ 𝒜 vorausgesetzt (vgl. 0.4). Aus jedem „Land“ A ∈ 𝒜 wird in einer Auswahlmenge genau ein „Bewohner“ ausgewählt und alle ausgewählten Bewohner bilden die Auswahlmenge B. Damit gilt:
Existenz von Repräsentantensystemen
Jede Äquivalenzrelation besitzt ein vollständiges Repräsentantensystem.
Diese Folgerung ist sogar äquivalent zum Auswahlaxiom. Gleiches gilt für:
Existenz von Auswahlfunktionen
Ist (Ai | i ∈ I) eine Familie nichtleerer Mengen, so ist ∏i ∈ I Ai ≠ ∅, d. h., es gibt eine Funktion f auf I mit f (i) ∈ Ai für alle i ∈ I.
Diese Aussage lässt sich als unendliche Verallgemeinerung des Satzes auffassen, dass ein kartesisches Produkt A1 × … × An nichtleerer Mengen nichtleer ist.
Das Auswahlaxiom eröffnet eine neue Möglichkeit zur Konstruktion von Funktionen (vgl. Abschnitt 1.5):
Möglichkeit 4: „ein (beliebiges) b mit …“
Sei ℰ(a, b) eine Eigenschaft und A eine Menge mit
(++) Für alle a ∈ A gibt es ein b mit ℰ(a, b).
Dann gibt es eine Funktion f auf A, sodass ℰ(a, f (a)) für alle a ∈ A erfüllt ist.
Eine solche Funktion f können wir in der Praxis einfach definieren durch
f (a) = „ein b mit ℰ(a, b)“ für alle a ∈ A.
Durch das „ein“ wird ein abstrakter Auswahlakt angedeutet. Dass zu jedem a mindestens ein b mit der Eigenschaft ℰ(a, b) existiert, muss vorab bewiesen werden.
Beispiele
(1) | Ist ∼ eine Äquivalenz auf A, so können wir f auf A/∼ definieren durch: f (B) = „ein b ∈ B“ für alle B ∈ A/∼. Welche b aus den Äquivalenzklassen gewählt werden, bleibt unbestimmt. Wir wissen aber, dass Bild(f) ein Repräsentantensystem von ∼ ist. |
(2) | Sei f : A → B surjektiv. Dann definieren wir g : B → A durch g(b) = „ein a ∈ A mit f (a) = b“. Welche Urbilder gewählt werden, bleibt unbestimmt. Wir wissen aber, dass g ∘ f = idA. (Die Aussage: „Ist f : A → B surjektiv, so existiert ein g : B → A mit g ∘ f = idA.“ ist erneut äquivalent zum Auswahlaxiom.) |
(3) | Ist (An | n ∈ ℕ) eine Familie abzählbar unendlicher Mengen, so sei (an, k | k ∈ ℕ) = „eine Bijektion f : ℕ → An“ für alle n ∈ ℕ. Damit kann die Diagonalaufzählung a0, 0, a0, 1, a1, 0, a0, 2, a1, 1, a2, 0, a0, 3, a1, 2, a2, 1, a3, 0, … von ⋃n ∈ ℕ An definiert werden. Dies zeigt (mit Hilfe des Auswahlaxioms), dass eine abzählbare Vereinigung abzählbar unendlicher Mengen abzählbar ist. |
Im nächsten Abschnitt werden wir das zum Auswahlaxiom äquivalente Zornsche Lemma vorstellen. Im dritten Kapitel können wir mit Hilfe des Zornschen Lemmas zeigen, dass jeder Vektorraum eine Basis besitzt. Diese fundamentale Aussage der Linearen Algebra ist ohne Auswahlaxiom nicht beweisbar (sie ist überraschenderweise ebenfalls äquivalent zum Auswahlaxiom). Manche Mathematiker bemerken scherzhaft:
„Ob jeder Vektorraum eine Basis besitzt, hängt vom Dozenten ab.“