6.1Das kanonische Skalarprodukt im ℝn

Definition (Skalarprodukt, orthogonal, euklidische Norm, Länge, normiert)

Sei n ≥ 1. Dann heißt die Abbildung 〈 ·, · 〉 : n × n   mit

〈 x, y 〉  =  xt y  =  x1 y1  +  …  +  xn yn

das kanonische Skalarprodukt oder kanonische innere Produkt des n.

Sind x, y  ∈  n mit 〈 x, y 〉 = 0, so sagen wir, dass x und y orthogonal sind oder aufeinander senkrecht stehen. Weiter definieren wir die euklidische Norm ∥ · ∥ : n  [ 0, ∞ [ des n durch

∥ x ∥  =  x,x  =  x12++xn2.

Die Zahl ∥ x ∥ heißt die euklidische Norm oder Länge von x. Gilt ∥ x ∥ = 1, so heißt x normiert.

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Orthogonalität im 2

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Die euklidische Norm im 2

 In diesem Kapitel untersuchen wir geometrische Begriffe wie Länge, Orthogonalität, Winkel in Vektorräumen über den Skalarenkörpern K =  oder K = . Sie werden mit Hilfe eines Skalarprodukts eingeführt. In den beiden ersten Abschnitten betrachten wir besonders wichtige Skalarprodukte auf dem n und n. Ihre Eigenschaften motivieren die allgemeine Definition in Abschnitt 6. 3. Ein erstes Beispiel für die geometrische Kraft des Skalarprodukts ist die Einführung der euklidischen Norm oder Länge. Für alle x  ∈  n ist ∥ x ∥ = x,x definiert, da

〈 x, x 〉  =  x21  +  …  +  x2n  ≥  0.

Der Satz des Pythagoras motiviert die Bezeichnung als Länge.

Zur Punkt-Notation für Abbildungen

Die Notation 〈 ·, · 〉 : n × n   bedeutet die Abbildung F : n × n   mit F(x, y) = 〈 x, y 〉 für alle x, y. Analoges gilt für die Norm ∥ · ∥. Die Punkt-Notation erlaubt es, viele Abbildungen unkompliziert anzugeben. Für alle y  ∈  n ist zum Beispiel 〈 ·, y 〉 : n   die Abbildung G : n   mit G(x) = 〈 x, y 〉 für alle x.

 Für alle x, y  ∈  n gilt:

Die Abbildungen 〈 x, · 〉, 〈 ·, y 〉 : n   sind linear.

Bilinearität

〈 x, y 〉  =  〈 y, x 〉

Symmetrie

〈 x, x 〉  >  0  für alle x ≠ 0

positive Definitheit

 Für die Norm gilt eine der wichtigsten Ungleichungen der Mathematik:

Cauchy-Schwarz-Ungleichung

Für alle x, y  ∈  n und λ  ∈   gilt aufgrund der Bilinearität

0  ≤  ∥ x − λy ∥2  =  〈 x − λy,  x − λy 〉  =  ∥ x ∥2  −  2λ 〈 x, y 〉  +  λ2 ∥ y ∥2.

Ist nun y ≠ 0 und λ = 〈 x, y 〉/∥ y ∥2, so erhalten wir die Cauchy-Schwarz-Ungleichung

|〈 x, y 〉|  ≤  ∥ x ∥ ∥ y ∥,

die auch für y = 0 gilt. Gleichheit gilt genau dann, wenn x und y linear abhängig sind.

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Der Kosinussatz:

∥ x − y ∥2  =  ∥ x ∥2  −  2∥ x ∥∥ y ∥cos(α)  +  ∥ y ∥2

 Damit können wir einführen:

Winkel

Für alle x, y  ∈  n − { 0 } heißt

α(x, y)  =  arccos(〈 x, y 〉∥x∥ ∥y∥)   ∈  [ 0, π ]

der von x, y eingeschlossene Winkel. Nach Cauchy-Schwarz ist der Bruch ein Element von [ −1, 1 ], sodass der Arkuskosinus anwendbar ist. Zur Motivation der Formel betrachten wir das von zwei Vektoren x, y  ∈  2 gebildete Dreieck mit den Seitenlängen ∥ x ∥, ∥ y ∥, ∥ x − y ∥. Mit Hilfe des Kosinussatzes lässt sich cos(α) durch die Seitenlängen ausdrücken. Die Formel folgt nun aus

∥ x − y ∥2  =  ∥ x ∥2  +  ∥ y ∥2  −  2 〈 x, y 〉.

 Am Vorzeichen des Skalarprodukts lässt sich ablesen, ob der Winkel α stumpf oder spitz ist, und α ist genau dann gleich π/2 = arccos(0), wenn 〈 x, y 〉 = 0. Dass die Orthogonalität von x, y  ∈  n durch die einfache (kosinusfreie) Bedingung x1 y1 + … + xn yn = 0 eingefangen wird, gehört zu den Wundern der Linearen Algebra. Eine überraschende Folgerung ist, dass die Lösungen eines Gleichungssystems Ax = 0 für A  ∈  m × n aus genau den Vektoren des n besteht, die auf allen Zeilen a1, …, am  ∈  n von A senkrecht stehen. Denn die Komponenten von Ax  ∈  m sind die Skalarprodukte 〈 a1, x 〉, …, 〈 am, x 〉.

Beispiele

(1)

Das Skalarprodukt mit e1, …, en  ∈  n liefert für jedes x  ∈  n die Komponenten 〈 e1, x 〉 = x1, …, 〈 en, xn 〉 = xn. Inbesondere gilt 〈 ei, ej 〉 = δij für alle i, j. Die Vektoren e1, …, en sind also normiert und paarweise orthogonal zueinander.

(2)

Für x = (1, 0),  y = (1, 1),  z = (−1, 1) gilt

〈 x, y 〉  =  1,  〈 x, z 〉  =  −1,  ∥ x ∥  =  1,  ∥ y ∥  =  ∥ z ∥  =  2,

α(x, y)  =  arccos(1/2)  =  π/4,  α(x, z)  =  arccos(−1/2)  =  3 π/4.