Der harmonische Oszillator
Wir betrachten einen Punkt der Masse m, der sich auf der x-Achse gemäß einer zeitunabhängigen Kraft F bewegt, die umgekehrt proportional zum x-Wert des Punktes ist. Ein realer Körper wird in diesem Modell auf seinen Schwerpunkt reduziert, dem die gesamte Masse des Körpers zugewiesen wird. Die zeitliche Bewegung q : ℝ → ℝ eines derartigen Massepunktes wird in der klassischen Mechanik durch eine Differentialgleichung
(+) m q″(t) = − k q(t), q″(t) = − k/m q(t)
zweiter Ordnung mit einer gegebenen Konstanten k > 0 beschrieben. Die Kraft F hat die Form F(x) = − k x für alle x ∈ ℝ. Die Aufgabe der Lösung der Differentialgleichung (+) wird durch die zusätzliche Vorgabe reeller Anfangswerte
q(0) = x0, q′(0) = v0
zu einem Anfangswertproblem, kurz AWP. Die Anfangswerte x0 und v0 legen den Startpunkt und die Startgeschwindigkeit des Körpers fest.
Die Kosinus- und Sinusfunktion reproduzieren sich durch zweimaliges Ableiten bis auf ein Vorzeichen. Wir verfolgen daher den Lösungsansatz
q(t) = a cos(ωt) + b sin(ωt) für alle t ∈ ℝ
mit unbekannten Parametern a, b, ω > 0. Für eine derartige Schwingung gilt:
(1) | q′(t) = − a ω sin(ωt) + b ω cos(ωt) |
(2) | q″(t) = − a ω2 cos(ωt) − b ω2 sin(ωt) = − ω2 q(t) |
(3) | q(0) = a, q′(0) = b ω |
Mit ω2 q = − q″ = k/m q, a = q(0) = x0, b = q′(0)/ω = v0/ω erhalten wir also:
Lösung des Anfangswertproblems für den harmonischen Oszillator
Das AWP
q″(t) = − k/m q(t), q(0) = x0, q′(0) = v0
wird gelöst durch q : ℝ → ℝ mit
(#)1 | q(t) = x0 cos(ωt) + v0/ω sin(ωt) für alle t ∈ ℝ, wobei |
ω = (Kreisfrequenz) |
Die Funktion q lautet in der äquivalenten Überlagerungsform:
(#)2 | q(t) = c cos(ωt − φ) für alle t ∈ ℝ, wobei |
c = = (Amplitude) | |
φ = arg(x0, v0/ω) ∈ ] −π, π ](Phasenverschiebung) |
Wir betrachten einige Beispiele.
Triviale Lösung
Im Sonderfall x0 = v0 = 0 ergibt sich q(t) = 0 für alle t ∈ ℝ. In allen anderen Fällen ist die Bewegung q eine echte Schwingung. Wir nehmen im Folgenden an, dass x0 ≠ 0 oder v0 ≠ 0.
Startgeschwindigkeit Null
Gilt v0 = 0 und x0 ≠ 0, so ergibt sich die Lösung q mit
(#)1 q(t) = x0 cos(ωt)
Der Massepunkt startet bei x0 in Ruhe und bewegt sich zum Nullpunkt. Der Beschleunigungsfaktor ω2 = k/m ist gering für kleine ω (kleine Konstante k oder große Masse m), und stark für große ω (große Konstante k oder kleine Masse m). Die Amplitude ist der Betrag des Startpunkts, die bewegung pendelt zwischen x0 und −x0. Die Kosinus-Darstellung lautet
(#)2 q(t) = c cos(ωt − φ)
mit
c = = |x0|
φ = arg(x0, 0) = 0 für x0 > 0
φ = arg(x0, 0) = π für x0 < 0
Die Lösungen des AWP mit m = 1, v0 = 0 für die Parameter
(x0, k) = (1, 1) (blau), (x0, k) = (2, 1) (gelb)
(x0, k) = (1, 2) (grün), (x0, k) = (2, 2) (rot)
Startpunkt Null
Gilt x0 = 0 und v0 ≠ 0, so erhalten wir die Lösung q mit
(#)1 q(t) = v0/ω sin(ωt)
Der Massepunkt entfernt sich mit der Startgeschwindigkeit v0 vom Nullpunkt entsprechend dem Vorzeichen von v0. Die Kraft verlangsamt die Bewegung, bis der Extremwert v0/ω und die Geschwindigkeit 0 erreicht ist. Danach kehrt der Punkt zum Nullpunkt zurück, und die Bewegung wiederholt sich symmetrisch zum Nullpunkt mit umgekehrtem Vorzeichen von v0. Die Kosinus-Darstellung lautet
(#)2 q(t) = c cos(ωt − φ)
mit
c = = |v0|/ω
φ = arg(0, v0/ω) = π/2 für v0 > 0
φ = arg(0, v0/ω) = − π/2 für v0 < 0
Die Lösungen des AWP mit m = 1, x0 = 0 für die Parameter
(v0, k) = (1, 1) (blau), (v0, k) = (2, 1) (gelb)
(v0, k) = (1, 2) (grün), (v0, k) = (2, 2) (rot)
Ändern wir das Vorzeichen von v0, so erhalten wir dieselbe Lösung mit geändertem Vorzeichen (Spiegelung an der x-Achse). Analoges gilt für das vorangehende Beispiel mit der Startgeschwindigkeit 0 und einem Vorzeichenwechsel des Startpunkts x0.
Auswirkung der Parameter
(1) | Die Lösung hängt von m und k und den Anfangswerten x0 und v0 ab. Die Größen k und m gehen als Verhältnis in die Kreisfrequenz ω ein und tauchen in der ω-Formulierung nicht mehr explizit auf: Mit ω = lautet die Differentialgleichung q″(t) = − ω2 q(t) |
(2) | Eine Veränderung von x0 betrifft in (#)1 q(t) = x0 cos(ωt) + v0/ω sin(ωt) nur den Kosinusanteil. Analoges gilt für v0 und den Sinus. Eine Veränderung von ω ändert die Kreisfrequenz beider Funktionen und zudem den Sinuskoeffizienten. Für im Vergleich zu v0 große ω dominiert der Kosinus. |
(3) | Für ein festes ω lesen wir aus (#)2 q(t) = c cos(ωt − φ) mit c = ab, dass Startwert und Startgeschwindigkeit in einer linearen Größenordnung in die Amplitude eingehen. Die Startgeschwindigkeit wird mit 1/ω skaliert und trägt mehr, gleichviel oder weniger (ω < 1, ω = 1, ω > 1) zur Amplitude bei als der Startwert. Für alle λ ∈ ℝ gilt: c(λ x0, λ v0) = |λ| c(x0, v0), sodass zum Beispiel eine Verdopplung von x0 und v0 zu einer Verdopplung der Amplitude führt. Ist |v0/ω| << |x0|, so gilt c(x0, v0) ∼ |x0|. Ist |x0| << |v0/ω|, so gilt c(x0, v0) ∼ |v0|/ω. |
Die Lösungen des AWP für
(x0, v0, ω) = (2, 3, 1) (blau), (x0, v0, ω) = (2, 3, 2) (gelb), (x0, v0, ω) = (1, 5, 1) (grün)
Die zugehörigen Amplituden sind , 5/2 bzw. .