Verdopplungsformeln und Winkelhalbierung
Die wohl wichtigste trigonometrische Identität ist der Satz des Pythagoras:
cos2 φ + sin2 φ = 1 für alle φ ∈ ℝ
Daneben spielen für unsere Untersuchungen die folgenden klassischen trigonometrischen Verdopplungsformeln eine Schlüsselrolle:
Satz (Verdopplungsformeln)
Für alle φ ∈ ℝ gilt:
(a) | cos2 φ − sin2 φ = cos(2φ) |
(b) | 2 cos φ sin φ = sin(2φ) |
(c) | cos(2φ) = 2 cos2 φ − 1 = 1 − 2 sin2 φ |
(d) | cos2(φ) = 1/2 (1 + cos(2φ)), sin2(φ) = 1/2 (1 − cos(2φ)) |
(e) | |cos(φ)| = |
(f) | |sin(φ)| = |
Am elegantesten werden diese Formeln wohl mit Hilfe der Eulerschen Formel
ei φ = cos φ + i sin φ für alle φ ∈ ℝ
und der Potenzregel e2φ = (eφ)2 bewiesen:
Beweis
Für für alle φ ∈ ℝ gilt:
cos(2 φ) + i sin(2φ) | = e2φ = (eφ)2 = (cos φ + i sin φ)2 |
= cos2 φ − sin2 φ + i 2 cos φ sin φ |
Der Vergleich von Real- und Imaginärteil zeigt (a) und (b). Die Version (c) erhalten wir, wenn wir in (a) den Satz des Pythagoras anwenden:
cos(2φ) = cos2 φ − (1 − cos2 φ) = 2 cos2 φ − 1
cos(2φ) = 1 − sin2 φ − sin2 φ = 1 − 2 sin2 φ
Die anderen Aussagen folgen durch Umstellung und Wurzelziehen.
Trigonometrische Argumente sind schwerfälliger und oft nur für bestimmte Winkelintervalle gültig, aber sie bleiben dennoch wertvoll. Und an Schönheit stehen sie obigem Beweis in nichts nach. Wir diskutieren zwei Konstruktionen, die die Verdopplungsformeln vor Augen führen.
Orthogonale Projektion und Spiegelung
Gegeben sei ein Vektor v = (cos φ, sin φ) auf dem Einheitskreis K1. Wir nehmen zunächst an, dass φ ∈ ] 0, π/2 [ und konstruieren folgende Figur:
Wir fällen das Lot von e1 auf den Vektor v und erhalten so den Vektor u (die orthogonale Projektion prv(e1) von e1 auf v). Mit Hilfe von u können wir e1 an der durch v erzeugten Geraden spiegeln. Wir erhalten so w = e1 + 2 u1 mit u1 = u − e1.
Es gilt:
u = cos(φ) v = (cos2 φ, cos φ sin φ)
u1 = u − e1
w | = e1 + 2 u1 = 2 u − e1 |
= (2 cos2 φ − 1, 2 cos φ sin φ) = (cos2 φ − sin2 φ, 2 cos φ sin φ) |
Der Vektor u ist die orthogonale Projektion von e1 auf v (Fällen des Lots). Weiter ist w die Spiegelung von e1 an der durch v definierten Geraden durch den Nullpunkt. Damit gilt
w = (cos(2φ), sin(2φ))
Durch Koordinatenvergleich ergeben sich die Verdopplungsformeln.
Die Konstruktion gilt auch für φ = 0 (mit u = w = e1) und φ = π/2 (mit u = 0 und w = − e1). Weiter ist sie auch für stumpfe Winkel gültig, wobei dann cos φ < 0 und der Projektionsvektor u eine zu v entgegengesetzte Richtung besitzt. Für allgemeine Winkel ergeben sich die Formeln aus den Symmetrie- und Periodizitätseigenschaften des Kosinus und Sinus.
Die gleiche Konstruktion mit einem stumpfen Winkel φ. Hier gilt cos φ < 0
Die Parallelogramm-Methode
Unsere zweite Konstruktion verwendet eine Diagonale eines gleichseitigen Parallelogramms zur Winkelhalbierung. Wir nehmen zunächst 2φ ∈ ] 0, π/2 [ an:
Zwei gleichlange Vektoren v und w spannen ein Parallelogramm auf. Der eingeschlossene Winkel der Vektoren wird durch die Diagonale v + w halbiert.
In wenigen Schritten gelangen wir zu den Verdopplungsformeln:
Wir nehmen zur Vereinfachung ∥v∥ = ∥w∥ = 1 an. Sei λ = ∥ v + w ∥ die Länge der Diagonale v + w des Parallelogramms. Dann gilt:
(I) | λ sin φ = sin (2φ) | (Dreieck 0, v + w, P) |
λ cos φ = 1 + cos(2φ) | (Dreieck 0, v + w, P) | |
(II) | cos φ = λ/2 | (Dreieck 0, v, S) |
Einsetzen von λ = 2 cos φ in (I) liefert die Verdopplungsformeln (a) und (b), wobei wir für den Kosinus zusätzlich den Satz des Pythagoras bemühen. Die anderen Formeln ergeben sich wie oben aus (a) und (b).
Für einen Winkel 2φ ∈ ] π/2, π [ können wir analog argumentieren:
Winkelhalbierung im stumpfwinkligen Fall
Die Aussagen (I) und (II) sind erneut gültig. Für 2φ ∈ { 0, π } lassen sich die Verdopplungsformeln leicht direkt verifizieren; das von v und w aufgespannte Diagramm ist in diesem Fall degeneriert. Wie bei der ersten Methode erhalten wir also die Verdopplungsformeln für alle Winkel.
Wir halten fest:
Satz (Winkelhalbierung mit Parallelogrammen)
Sei v = (x, y) = (cos(2φ), sin(2φ)) ∈ K1 mit φ ∈ ] −π/2, π/2 [. Dann halbiert der Vektor
u = v + (1, 0) = (x + 1, y)
das Argument von v, d. h. es gilt
(cos φ, sin φ) = û, wobei û = ∥ u ∥−1 u
Insbesondere gilt
φ = arctan(y/(x + 1)) ∈ ] −π/2, π/2 [
Die Voraussetzung φ ≠ π/2 ist wesentlich, da sonst v = (−1, 0), u = 0, x + 1 = 0.
Eine nützliche Anwendung ist:
Satz (fallunterscheidungsfreie Berechnung des Arguments)
Sei (x, y) ∈ (ℝ2)− = ℝ2 − { (x, 0) | x ≤ 0 }, und sei
λ = ∥ (x, y) ∥ =
Dann gilt mit Winkeln in ] −π, π [:
arg(x, y) = arctan2(x, y) = 2 arctan(yx + λ)
Beweis
Der Vektor (x + λ, y) halbiert nach der Parallelogramm-Methode das Argument von (x, y) (mit x + λ > 0 wegen (x, y) ∈ (ℝ2)−). Damit ist
arg(x, y) = 2 arg(x + λ, y) = arctan(y/(x + λ))
Damit lassen sich für Vektoren in der geschlitzten Ebene (ℝ2)− die Fallunterscheidungen der zweistelligern Arkustangens-Funktion vermeiden.
Nützlich für Berechnungen und zudem auch für den Sonderfall φ = π/2 geeignet ist die folgende Variante:
Satz (Winkelhalbierungsformel)
Sei v = (x, y) ∈ ℝ2 mit v ≠ 0. Weiter seien λ = ∥ v ∥, arg(v) = 2φ ∈ ] −π, π ] und
v* = (Winkelhalbierungsformel)
mit der zweiwertigen Vorzeichenfunktion sgn+ (mit sgn+(0) = 1).
Dann ist v* normiert und arg(v*) = φ ∈ ] −π/2, π/2 ]. Im Fall 2φ ≠ π gilt
φ = arctan(sgn+(y) )
Beweis mit Hilfe von Pararallelogrammen
Wir nehmen zunächst 2φ = π an. Dann gilt v = (x, y) = (− λ, 0), sodass
v* = (0, 1), arg(v*) = π/2 = φ
Es gelte also 2φ ≠ π. Der Vektor u = (x + λ, y) ≠ 0 halbiert arg(v). Mit
∥ u ∥2 = (x + λ)2 + y2 = x2 + 2λ x + λ2 + y2 = 2λ2 + 2λx = 2λ (λ + x)
y = sgn+(y) = sgn+(y)
erhalten wir
û = =
Damit ist v* = û ∈ K1 und arg(v*) = arg(û) = φ. Der Zusatz ist klar.
Beweis mit Hilfe der Verdopplungsformeln
Sei θ = sgn+(y). Dann gilt θ = sgn+(sin(φ)) (auch für φ = π/2), sodass
|cos φ| = cos φ, |sin φ| = θ sin φ
Mit den Verdopplungsformeln (Version (d) des Satzes) erhalten wir:
cos φ = = = 1/
sin φ = θ = θ = θ/
Folglich gilt
v* = = (cos φ, sin φ),
sodass arg(v*) = φ. Zudem ist v* normiert, da
∥ (, θ ) ∥ = =
Durch die Verwendung der zweiwertigen Vorzeichenfunktion ist die Winkelhalbierungsformel auch im Sonderfall y = 0 und x < 0 korrekt. Wir erhalten in diesem Fall den normierten Halbierungsvektor e2 = (0, 1), der mit der Parallelogrammkonstruktion nicht eingefangen wird.
Charakteristisch ist das Auftreten einer doppelten Wurzel in den Koordinaten der Halbierungsformel. Der Länge λ von (x, y) ist die Wurzel aus x2 + y2. Zu dieser Wurzel wird die erste Koordinate von v addiert bzw. subtrahiert, und anschließend wird noch einmal die Wurzel gezogen. Die zweite Koordinate von v geht als Vorzeichen ein und ist in der Länge λ präsent.
Diagonalen eines gleichseitigen Parallelogramms
Sei v = (x, y) ≠ 0 mit arg(v) ≠ π. Weiter sei λ = ∥ v ∥. Dann gilt für die Längen d1 und d2 der Diagonalen des von v und λ e1 aufgespannten Parallelogramms:
d1 = ∥ v + λ e1 ∥ =
d2 = ∥ v − λ e1 ∥ =
d12 + d22 = ∥ v + λ e1 ∥2 + ∥ v − λ e1 ∥2 = 4 λ2
Die dritte Formel ergibt sich auch aus der allgemeinen Parallelogrammgleichung
∥ v + w ∥2 + ∥ v − w ∥2 = 2 (∥v∥2 + ∥w∥2)
für den Fall w = λ e1. Damit lassen sich die Terme und der Winkelhalbierungsformel geometrisch interpretieren: Es gilt
∥ (d1, d2) ∥ v* = 2 λ v* = (d1, θ d2) mit θ = sgn+(y)
Das analoge Ergebnis für die Winkelverdopplung ist:
Satz (Winkelverdopplungsformel)
Sei v = (x, y) ∈ ℝ2 mit v ≠ 0. Weiter seien λ = ∥ v ∥, arg(v) = φ und
v* = 1λ2 = 1λ2
Dann ist v* normiert und es gilt arg(v*) = 2φ modulo 2π.
Beweis
Es gilt
(cos φ, sin φ) = 1/λ (x, y)
Die Behauptung ergibt sich nun aus den Verdopplungsformeln, da
(cos(2φ), sin(2φ)) = (cos2 φ − sin2 φ, 2 cos φ sin φ) = 1/λ2 (x2 − y2, 2 x y)
Ausblick
Bei der Untersuchung einer Matrix-Ellipse wie in den obigen Bildern werden wir einen wichtigen Vektor (den „q-Vektor“) finden, der mit der x-Achse einen Winkel φ ∈ ] −π, π ] einschließt. Die Ellipse besitzt eine große Halbachse in der rechten Halbebene, und der Winkel dieser Halbachse stellt sich als φ/2 ∈ ] −π/2, π/2 ] heraus (wobei wir die positive y-Achse zur rechten Halbebene zählen). Die Verdopplungsformeln und die allgemeine Winkelhalbierungsformel sind hier häufig im Einsatz. Ein geometrischer Blick auf die Halbierung ist dabei oft hilfreich.
Winkelhalbierung und Winkelverdopplung mit komplexen Zahlen
Wir leiten die Formeln für die Halbierung und Verdopplung von Winkeln noch mit Hilfe der komplexen Zahlen her. Das Produkt zweier komplexer Zahlen z1 = (x1, x2), z2 = (x2, y2) ∈ ℂ ist definiert durch
z1 z2 = (x1 x2 − y1 y2, x1 y2 + x2 y2)
Geometrisch ergibt es sich durch Multiplikation der Längen und Addition der Winkel. Ist z1 = (r1, φ1)polar, z2 = (r2, φ2)polar, so gilt:
z1 z2 = (r1 r2, φ1 + φ2)polar(geometrische Multiplikationsregel)
Speziell gilt z2 = (r2, 2φ) für z = (r, φ). Halbe Winkel erhalten wir also mit Hilfe von Quadratwurzeln. Sie lassen sich kartesisch wie folgt berechnen:
Berechnung von komplexen Wurzeln
Sei v = (x, y) ∈ ℂ, und sei λ = |v| (= ∥ v ∥). Ein z = (a, b) ∈ ℂ ist wegen z2 = (a2 − b2, 2 a b) = (x, y) und | z |2 = |z2| = | v | = λ genau dann eine Lösung der Gleichung
(+) z2 = v,
wenn gilt:
(I) | a2 − b2 = x |
(II) | 2 a b = y |
(III) | a2 + b2 = λ |
Addition bzw. Subtraktion von (III) und (I) liefert:
a = ± , b = ± .
Aus (II) folgt sgn(a b) = sgn(y), sodass im Fall y ≥ 0 „++“ und „−−“ die Lösungen kennzeichnet, während wir im Fall y < 0 „+−“ und „−+“ erhalten.
Die Überlegung zeigt:
Satz (komplexe Quadratwurzeln, Winkelhalbierungsformel)
Sei v = (x, y) ∈ ℂ, und sei λ = | v |. Dann ist
z = ∈ ℂ
die eindeutige Quadratwurzel von v mit arg(z) ∈ ] −π/2, π/2 ] (mit arg(0) = 0).
Ist v ≠ 0, so ist − z die zweite Quadratwurzel von v. Weiter ist dann z/ normiert, sodass wir die obige Winkelhalbierungsformel reproduziert haben.
Mit Hilfe der komplexen Exponentialfunktion formuliert gilt für v und z wie im Satz:
z = ei φ/2 mit v = r ei φ/2, φ ∈ ] − π, π ].
Die komplexe Zahl z ist der sogenannte Hauptwert der (mehrwertigen) komplexen Quadratwurzel von v. Wir bezeichnen sie mit sqrt(v). Die Funktion sqrt : ℂ → ℂ nennen wir auch die rechte (oder rechtswertige) Quadratwurzelfunktion. Sie ist injektiv und ihr Wertebereich ist die rechte Halbebene einschließlich der nichtnegativen y-Achse.
Die Winkelverdopplungsformel ergibt sich unmittelbar aus der Definition der Multiplikation. Ist v = (x, y) = (r, φ)polar ∈ ℂ, so gilt
v2 = (x2 − y2, 2x y), v2 = (r, 2φ)polar.
Für v ≠ 0 erhalten wir einen normierten Vektor mit doppeltem Winkel also durch die Bildung von
λ−2 (x2 − y2, 2x y), wobei λ = | v |.
Damit haben wir auch die Winkelverdopplungsformel noch einmal etabliert.