11. Vorlesung Integration
1. Stammfunktionen
Definition (Stammfunktion)
Sei f : P → ℝ. Dann heißt eine Funktion F : P → ℝ eine Stammfunktion von f, falls F′ = f.
Zwei wichtige Beobachtungen sind:
(1) | Ist F eine Stammfunktion von f und c ∈ ℝ, so ist auch F + c eine Stammfunktion von f. |
(2) | Sind F und G Stammfunktionen von f, so gilt (F − G)′ = f − f = 0, sodass ein c ∈ ℝ existiert mit F − G = c. |
Kurz:
Eine Stammfunktion ist nur bis auf eine Konstante eindeutig bestimmt.
2. Das Riemann-Integral
Das Problem des Auffindens einer Stammfunktion ist eng verknüpft mit einer auf den ersten Blick ganz anderen Fragestellung:
Wie bestimmt man den signierten Inhalt der Fläche, die eine auf einem Intervall [ a, b ] definierte reellwertige Funktion f mit der x-Achse einschließt?
Signiert (vorzeichenbehaftet) bedeutet dabei, dass Flächenanteile unterhalb der x-Achse negativ zählen. Dies ermöglicht die folgende Sicht:
Signierte Flächen als Mittelwerte
Ist f : [ a, b ] → ℝ auf einem Intervall der Länge 1 definiert, so ist der signierte Flächeninhalt c anschaulich der Mittelwert der Funktion f, denn die Funktion g : [ a, b ] → ℝ mit konstantem Wert c definiert den gleichen signierten Flächeninhalt wie die Funktion f, nämlich 1 · c. Ist allgemeiner [ a, b ] ein Intervall der Länge m > 0, so ist der signierte Flächeninhalt c das m-fache des Mittelwerts von f. Damit lässt sich die geometrische Fragestellung der Flächenbestimmung in die Fragestellung der Mittelwertbildung übersetzen und umgekehrt:
Signierte Fläche = Mittelwert mal Intervall-Länge.
Für eine Funktion f : [ a, b ] → ℝ definieren wir
Iba f = ∫ba f = ∫ba f (x) dx = „signierter Flächeninhalt von f“.
Die so definierte reelle Zahl Iba nennen wir auch das (bestimmte) Integral über f (von a bis b).
3. Definition des Integrals über Riemann-Summen
Definition (Partition, Zerlegungspunkt, Stützstellen, Feinheit, äquidistant)
Sei [ a, b ] ein reelles Intervall. Eine Folge p = (tk, xk)k ≤ n heißt eine Partition von [ a, b ] der Länge n + 1, falls gilt
a = t0 ≤ x0 ≤ t1 ≤ x1 ≤ … ≤ tn ≤ xn ≤ b.
Wir nennen die Zahlen tk auch die Zerlegungspunkte und die Zahlen xk die Stützstellen der Partition. Weiter setzen wir tn + 1 = b und nennen
δ(p) = maxk ≤ n (tk + 1 − tk)
die Feinheit der Partition. Die Partition heißt äquidistant, falls tk + 1 − tk für alle k ≤ n gleich ist.
Definition (Riemann-Summe)
Sei f : [ a, b ] → ℝ und p = (tk, xk)k ≤ n eine Partition von [ a, b ]. Dann heißt
∑p f = ∑k ≤ n f (xk) (tk + 1 − tk)
die Riemann-Summe von f bzgl. p.
Definition (Riemann-Integral)
Eine Funktion f : [ a, b ] → ℝ heißt Riemann-integrierbar mit Riemann-Integral c ∈ ℝ, falls für jede Folge (pn)n ∈ ℕ von Partitionen von [ a, b ] mit limn → ∞ δ(pn) = 0 gilt, dass limn → ∞ ∑p f = c. Wir schreiben dann
Iba f = ∫ba f = ∫ba f (x) dx = c.
Weiter definieren wir:
∫ab f = − ∫ba f für b < a(Rückwärtsintegral)
4. Integrierbare Funktionen
Satz (Integrierbarkeit der elementaren Funktionen)
Jede elementare Funktion f : [ a, b ] → ℝ ist Riemann-integrierbar.
Ein instruktives Beispiel für eine nicht Riemann-integrierbare Funktion ist:
Definition (Dirichlet-Sprungfunktion)
Die Dirichlet-Sprungfunktion f : [ 0, 1 ] → ℝ ist definiert durch
5. Eigenschaften des Integrals
Satz (elementare Eigenschaften des Integrals)
Sei [ a, b ] ein reelles Intervall. Dann gilt für alle integrierbaren Funktionen f, g : [ a, b ] → ℝ, alle c ∈ ℝ und alle s ∈ [ a, b ]:
(1) | ∫ba1 = b − a, (Normierung) |
(2) | ∫bac f = c ∫ba f, (Skalierung) |
(3) | ∫ba(f + g) = c ∫baf + d ∫bag, (Additivität) |
(4) | ∫baf ≤ ∫bag, falls f (x) ≤ g(x) für alle x ∈ [ a, b ], (Monotonie) |
(5) | ∫baf = ∫saf + ∫bsf (Aufspaltung) |
Die zweite und dritte Eigenschaft können wir zusammenfassen:
∫ba(c f + d g) = c ∫baf + d ∫bag. (Linearität)
6. Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung
Satz (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, HDI)
Sei f : [ a, b ] → ℝ integrierbar.
Teil 1: Berechnung von Integralen
Ist F eine Stammfunktion von f, so gilt
∫ba f = F(b) − F(a).
Teil 2: Existenz von Stammfunktionen
Sei s ∈ [ a, b ] und F : [ a, b ] → ℝ definiert durch
F(x) = ∫xs f für alle x ∈ [ a, b ].
Dann gilt: Ist f stetig, so ist F eine Stammfunktion von f.
Kurz:
(1) | Mit Stammfunktionen können wir Integrale berechnen. |
(2) | Mit Integralen können wir Stammfunktionen definieren. |
In diesem Sinne sind Integrieren und Differenzieren invers zueinander.
Definition (Auswertungsnotation)
Wir setzen
= = F(b) − F(a).
Damit gilt also unter den Voraussetzungen des ersten Teils des Satzes
∫ba f = .
7. Zum Beweis des Hauptsatzes
Ein strenger Beweis des Hauptsatzes wird innerhalb einer systematischen Darstellung der Analysis geführt. Wir begnügen uns hier mit einer intuitiven Argumentation, die sich als Grundlage für einen vollständigen Beweis eignet.
Argumentation mit Riemann-Summen
Sei p = (tk, xk)k ≤ n eine sehr feine Partition von [ a, b ], d. h. δ(p) ist sehr klein. Dann gilt (mit ∼ = „wird approximiert durch, ist ungefähr gleich“):
∫ba f | ∼ ∑p f = ∑k ≤ n f (xk) (tk + 1 − tk) |
= ∑k ≤ n F′(xk) (tk + 1 − tk) | |
∼ ∑k ≤ n F(tk + 1) − F(tk)tk + 1 − tk (tk + 1 − tk) | |
= ∑k ≤ n (F(tk + 1) − F(tk)) | |
= F(tn + 1) − F(t0) | |
= F(b) − F(a). |
Die Summe der drittletzten Zeile ist eine sog. Teleskop-Summe: Es bleiben nur die äußersten Summanden übrig, da sich alle anderen paarweise aufheben.
Noch bestechender wird das Argument, wenn wir die Leibniz-Notation ernst nehmen und infinitesimal rechnen:
Argumentation mit infinitesimalen Größen
Wir fassen das Integral über f von a nach b als Summe von infinitesimalen Rechtecksflächen f (x) · dx auf und die Ableitung als Quotienten dF(x)/dx infinitesimaler Größen. Dann können wir schreiben
∫ba f (x) dx | = ∫ba F′(x) dx = ∫ba dF(x)dx dx |
= ∫ba dF(x) = F(b) − F(a). |
8. Uneigentliche Integrale
Wir haben bislang nur Funktionen betrachtet, die auf endlichen Intervallen definiert sind. Um auch andere Funktionen behandeln zu können, führt man zusätzliche Grenzübergänge ein. Im Fall der Existenz setzen wir
∫∞a f = limb → ∞ ∫ba f, ∫b−∞ f = lima → −∞ ∫ba f, ∫∞−∞ f = ∫∞0 f + ∫0−∞ f.
Analog werden Polstellen behandelt. Dabei ist es allgemein üblich, ein uneigentliches Integral über f von a bis b nur dann zu erklären, wenn f auf jedem Teilintervall [ c, d ] mit a < c < d < b integrierbar im ursprünglichen Sinn ist. Damit kann man zum Beispiel nicht über Polstellen im Inneren der Integrationsgrenzen hinweg integrieren. Natürlich lässt sich das Integral für solche Fälle verallgemeinern, solange sich ein wohldefinierter Grenzwert ergibt.
Beispiel
∫10 log x dx | = lima → 0 ∫1a log x dx = lima → 0 |
= −1 − lima → 0 a(log(a) − 1) = −1 − 0 = −1. |