2. Vorlesung Geraden und Parabeln

1. Geraden

Definition (Gerade)

Seien a, b  ∈  . Dann heißt die Funktion g :    mit

g(x)  =  ax + b  für alle x  ∈ 

die Gerade mit der Steigung a und der y-Verschiebung oder dem Nullwert b.

Definition (Identität)

Die Gerade id :    mit id(x) = x für alle x  ∈   heißt die Identität oder (erste) Winkelhalbierende auf .

2. Die Gerade durch zwei gegebene Punkte

 Sind zwei Punkte (x1, y1) und (x2, y2) der Ebene mit x1 ≠ x2 gegeben, so gibt es genau eine Gerade g durch diese Punkte, d. h. eine Gerade g mit g(x1) = y1 und g(x2) = y2. Die Steigung dieser Geraden ist

a  =  y1 − y2x1 − x2  =  y2 − y1x2 − x1.

Die y-Verschiebung b erhalten wir aus y1 = g(x1) = ax1 + b, sodass

b  =  y1 − ax1  =  x1y1 − x2y1 − x1y1 + x1y2x1 − x2  =  x1y2 − x2y1x1 − x2.

Insgesamt gilt also

g(x)  =  ax + b  =  y1 − y2x1 − x2 x  +  x1y2 − x2y1x1 − x2  für alle x  ∈  .

Beispiel

Für die Gerade g :    durch die Punkte (2, 4) und (5, 1) gilt

g(x)  =  4 − 12 − 5 x  +  2 · 1 − 5 · 42 − 5  =  −x  +  6  für alle x  ∈  .

3. Die Steigungsform

 Sei g die Gerade ax + b. Ist nun p  ∈  , so ist oft eine Darstellung von g von Vorteil, die den Punkt p als „neuen Ursprung“ oder „Entwicklungspunkt“ ansieht. Hierzu fassen wir die Gerade g als die um p entlang der x1-Achse und g(p) = ap + b entlang der y-Achse verschobene Gerade ax auf. Damit gilt

g(x)  =  a(x − p)  +  g(p)  für alle x  ∈  .(Steigungsform im Punkt p)

Anstelle von „Steigungsform“ spricht man gleichwertig auch von einer Punkt-Richtungsdarstellung. Die Gerade g verläuft durch den Punkt (p, g(p)) in der Richtung des Vektors (1, a).

4. Tangenten

 Die Steigungsform wird in der Differentialrechnung zur lokalen Approximation von Funktionen eingesetzt: Hat eine Funktion f :    an einer Stelle p  ∈   die Ableitung f ′(p) = a, so heißt die Gerade g :    mit

g(x)  =  f ′(p) (x − p)  +  f (p)  für alle x  ∈ 

die Tangente von f durch den Punkt (p, f (p)). An der Stelle p ist die Tangente die aus linearer Sicht bestmögliche Approximation an die Funktion f: Sie stimmt mit der Funktion f in Funktionswert und Steigung an der Stelle p überein.

5. Parabeln

Definition (Parabel)

Seien a, b, c  ∈   mit a ≠ 0. Dann heißt die Funktion f :    mit

f (x)  =  ax2  +  bx  +  c  für alle x  ∈ 

die (funktionale) Parabel mit der Öffnung a, Nullpunktsteigung b und dem Nullwert c.

Definition (Einheitsparabel)

Die Parabel sq :    mit sq(x) = x2 für alle x  ∈   heißt die Einheitsparabel oder Normalparabel (mit sq für engl. square).

6. Quadratwurzeln

Definition (Quadratwurzel)

Die Umkehrfunktion der auf das Intervall [ 0, ∞ [ eingeschränkten Einheitsparabel heißt die Quadratwurzelfunktion. Wir bezeichnen sie mit

sqrt : [ 0, ∞ [  [ 0, ∞ [  (für engl. square root).

Weiter schreiben wir auch x anstelle von sqrt(x). Für alle x ≥ 0 heißt sqrt(x) die Quadratwurzel oder kurz Wurzel von x.

Nach Definition gilt

sqrt(sq(x))  =  x  =  sq(sqrt(x))  für alle x  ∈  [ 0, ∞ [

oder gleichwertig

x2  =  x  =  (x)2  für alle x  ∈  [ 0, ∞ [.

Die Wurzel aus x2 ist wegen x2 ≥ 0 für alle reellen Zahlen x definiert. Es gilt

x2  =  |x|  für alle x  ∈  .(Formel vom nicht vergessenen Betrag)

Für x = −2 gilt zum Beispiel x2 = 4. Die Wurzel aus 4 ist aber 2 und nicht −2.

7. Der Verschiebungssatz

Satz (Verschiebungssatz für Parabeln)

Eine Parabel ax2 + bx + c ist eine Verschiebung der Parabel ax2 entlang der Achsen: Es gibt x0, y0  ∈   mit

(+)  ax2 + bx + c  =  a(x − x0)2 + y0  für alle x  ∈  .

Beweis

Die Aussage (+) ist äquivalent zu

ax2  +  bx  +  c  =  ax2 − 2ax0x  +  ax02  +  y0  für alle x  ∈  .

Durch Koeffizientenvergleich können wir x0 und y0 bestimmen: Aus

b  =  −2ax0,  c  =  ax02  +  y0

erhalten wir

x0  =  −b2a,  y0  =  c  −  ax02  =  c  −  a b24a2  =  c  −  b24a.

Einsetzen zeigt, dass x0 und y0 wie gewünscht sind.

8. Die Scheitelform

Definition (Scheitelpunkt, Scheitelform)

Sei f :   , f (x) = ax2 + bx + c eine Parabel. Dann heißt der Punkt

(x0, y0)  =  (b2a,  c  −  b24a)

der Ebene der Scheitelpunkt und die Darstellung

f (x)  =  a(x − x0)2 + y0

die Scheitelform der Parabel.

9. Nullstellen und Lösungsformel

 Eine Parabel a(x − x0)2 + y0 in Scheitelform hat die Nullstellen

x1,2  =  x0  ±  y0/a,  falls  −y0a ≥  0.

Aus der Formel für den Scheitelpunkt

(x0, y0)  =  (b2a,  c  −  b24a)

gewinnen wir:

Satz (Nullstellen von Parabeln)

Eine Parabel ax2 + bx + c hat im Fall einer nichtnegativen Diskriminante d = b2 − 4ac ≥ 0 genau die Nullstellen

x1,2  =  b±b24ac2a.(Lösungsformel, Mitternachtsformel)

Ist d = 0, so gilt x1 = x2. Andernfalls gilt x1 ≠ x2. Im Fall d < 0 hat die Parabel keine Nullstellen.

10. Der Wurzelsatz von Vieta

Satz (Vietascher Wurzelsatz)

Seien b, c  ∈  , und seien x1, x2 die (nicht notwendig verschiedenen) Nullstellen von x2 + bx + c. Dann gilt:

b  =  −(x1 + x2),  c  =  x1 x2.(Formeln von Vieta)

 Wir geben zwei Beweise des Satzes.

Beweis

Nach der Mitternachtsformel gilt wegen a = 1:

2x1,2  =  −b  ±  b24c

Wir setzen w = b24c. Dann gilt

(x1 + x2)  =  b − w + b + w2  =  b,

x1 x2  =  b2 − w24  =  c.