26. Vorlesung Kurven
1. Vektorwertige Funktionen
Wir betrachten Funktionen der Form f : ℝ → ℝm oder f : P → ℝm mit P ⊆ ℝ mit einer natürlichen Zahl m ≥ 1.
Definition (Grenzwerte im ℝm)
Seien m ≥ 1, (xn)n ∈ ℕ eine Folge im ℝm und y ∈ ℝm. Dann heißt y Grenzwert von (xn)n ∈ ℕ, falls gilt
∀ε > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 ∥ y − xn ∥ < ε.
Im Fall der Existenz ist der Grenzwert einer Folge erneut eindeutig bestimmt und wir schreiben wieder limn → ∞ xn oder limn xn für diesen Grenzwert.
Ist (xn)n ∈ ℕ = ((xn, 1, …, xn, m))n ∈ ℕ eine Folge im ℝm und y = (y1,…, ym) ∈ ℝm, so sind äquivalent:
(1) | limn xn = y. |
(2) | limn xn, k = yk für alle 1 ≤ k ≤ m.(komponentenweise Konvergenz) |
Definition (Stetigkeit für mehrdimensionale Funktionswerte)
Seien m ≥ 1, P ⊆ ℝ und f : P → ℝm. Weiter sei p ∈ P. Dann heißt f ε-δ-stetig oder umgebungsstetig an der Stelle p, falls gilt:
∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀x ∈ P (|x − p| < δ → ∥ f (x) − f (p) ∥ < ε).
Weiter heißt f folgenstetig an der Stelle p, falls für jede Folge (xn)n ∈ ℕ in P gilt, dass
limn xn = p impliziert limn f (xn) = f (p).
Ist f umgebungs- bzw. folgenstetig an allen Stellen p ∈ P, so heißt f umgebungsstetig bzw. folgenstetig.
Die beiden Stetigkeitsbegriffe erweisen sich wie im eindimensionalen Fall als äquivalent, sodass wir auch kurz von Stetigkeit ohne Zusatz sprechen können.
Definition (Komponentenfunktionen)
Seien m ≥ 1, P ⊆ ℝ und f : P → ℝm. Dann heißen die reellen Funktionen f1, …, fm : P → ℝ mit
f (x) = (f1(x), …, fm(x)) für alle x ∈ P
die Komponenten- oder Koordinatenfunktionen von f.
Für alle m ≥ 1, P ⊆ ℝ, f : P → ℝm und p ∈ P sind äquivalent:
(1) | f ist stetig an der Stelle p. |
(2) | f1, …, fm sind stetig an der Stelle p.(komponentenweise Stetigkeit) |
2. Kurven und Tangentialvektoren
Definition (Kurve, Parameter, Bahn, Spur)
Sei m ≥ 1, und sei [ a, b ] ⊆ ℝ ein reelles Intervall. Weiter sei f : [ a, b ] → ℝm stetig. Dann heißt f eine (parametrisierte) Kurve im ℝm und jedes t ∈ [ a, b ] heißt ein Parameter von f. Der Wertebereich
spur(f) = { f (t) | t ∈ [ a, b ] }
von f heißt auch die Bahn oder Spur von f.
Definition (Startpunkt, Endpunkt, geschlossen, offen)
Sei f : [ a, b ] → ℝm eine Kurve. Dann heißt f (a) der Startpunkt und f (b) der Endpunkt von f. Gilt f (a) = f (b), so heißt die Kurve geschlossen. Andernfalls heißt sie offen.
Definition (differenzierbar, Ableitung, Tangentialvektor, regulär, singulär)
Sei f : [ a, b ] → ℝm eine Kurve. Weiter sei t ∈ [ a, b ]. Dann heißt f (stetig) differenzierbar an der Stelle t, falls alle Komponenten f1, …, fm von f an der Stelle t (stetig) differenzierbar sind. Wir setzen dann
f ′(t) = (f1′(t), …, fm′(t)) ∈ ℝm.
Der Vektor f ′(t) heißt die Ableitung oder der Tangentialvektor von f an der Stelle t. Ist f ′(t) ≠ 0, so heißt der Parameter t regulär. Ist f ′(t) = 0, so heißt t singulär. Schließlich heißt f (stetig) differenzierbar, falls f (stetig) differenzierbar für alle t ∈ [ a, b ] ist.
Unter der dynamischen Interpretation ist f ′(t) der Geschwindigkeitsvektor der Kurve f zum Zeitpunkt t. Der Betrag der Geschwindigkeit ist
λ = ∥ f ′(t) ∥ = .
Ist λ ≠ 0, d. h. t ein regulärer Parameter, so ist f ′(v)/λ die normierte Richtung der Geschwindigkeit, und diese Richtung ist tangential zur Spur von f. Ist λ = 0, so steht ein sich gemäß f (t) bewegender Punkt zum Zeitpunkt t still.
Beispiel
Sei f : [ 0, 2π ] → ℝ2 definiert durch
f (t) = ei t = (cos t, sin t) für alle t ∈ [ 0, 2π ].
Dann ist f eine geschlossene Kurve, die die gleichmäßige Bewegung eines Punktes auf dem Einheitskreis gegen den Uhrzeigersinn mit Startpunkt 1 = (1, 0) beschreibt. Die Spur von f ist der Einheitskreis K. Die Kurve ist stetig differenzierbar mit
f ′(t) = (cos′ t, sin′ t) = (−sin t, cos t) für alle t ∈ [ 0, 2π].
Der Vektor f ′(t) hat für alle t die Länge 1 und er steht senkrecht auf f (t).
3. Die Länge einer Kurve
Definition (Polygon-Approximation)
Sei f : [ a, b ] → ℝm eine Kurve, und sei p = (tk)k ≤ n eine (stützstellenfreie) Partition von [ a, b ]. Dann setzen wir
Lp f = ∑k ≤ n ∥ f(tk + 1) − f (tk) ∥ (wobei wieder tn + 1 = b).
Die reelle Zahl Lp f ist die Euklidische Länge des durch die Punkte
f (a) = f (t0), f (t1), f (t2), …, f (tn), f(tn + 1) = f (b)
definierten Polygon-Zugs im ℝm. Je feiner die Partition p ist, desto mehr nähert sich Lp f anschaulich der Länge der Kurve f an.
Definition (rektifizierbar, Länge)
Sei f : [ a, b ] → ℝm eine Kurve. Dann heißt f rektifizierbar, falls
L(f) = limδ(p) → 0 Lp f
existiert. In diesem Fall heißt L(f) die (Euklidische) Länge von f.
Der Grenzwert
c = limδ(p) → 0 Lp f
bedeutet, dass für jede Folge (pn)n ∈ ℕ von Partitionen von [ a, b ], deren Feinheiten gegen Null konvergieren, die Folge (Lpn f)n ∈ ℕ der Längen der zugehörigen Polygon-Approximationen gegen den gleichen reellen Wert c konvergiert. Der Leser vergleiche dies mit der Definition des Riemann-Integrals.
4. Die Längenformel
Satz (Längenformel für stetig differenzierbare Kurven)
Sei f : [ a, b ] → ℝm eine stetig differenzierbare Kurve. Dann ist f rektifizierbar und es gilt
L(f) = ∫ba ∥ f ′(t) ∥ dt.(Längenformel)
Durch ein dynamisches Argument wird die Längenformel plausibel: Nach der Formel „Weg ist Geschwindigkeit mal Zeit“ können wir ∥ f ′(t) ∥ dt als den infinitesimal zurückgelegten Weg auffassen. Im Integral werden diese infinitesimalen Wege zur Gesamtlänge des zurückgelegten Weges aufsummiert.
Beispiel: Parabelbogen
Wir berechnen die Länge eines Parabelbogens. Sei hierzu [ a, b ] ein reelles Intervall, und sei f : [ a, b ] → ℝ2 definiert durch
f (t) = (t, t2) für alle t ∈ [ a, b ].
Die stetig differenzierbare Kurve f durchläuft den durch das Intervall [ a, b ] definierten Bogen der Einheitsparabel. Es gilt
f ′(t) = (1, 2t), ∥ f ′(t) ∥2 = 1 + 4t2 für alle t ∈ [ a, b ].
Zur Berechnung der Länge von f verwenden wir, dass
∫ dt = 12 (t + c2 log(t + )) für alle c ∈ ℝ.
Mit c = 1/2 erhalten wir
L(f) | = ∫ba ∥ f ′(t) ∥ dt = ∫ba dt |
= 2 ∫ba dt | |
= . |
Für das Intervall [ a, b ] = [ 0, 1 ] ergibt sich
L(f) | = + 14 log(1 + ) − 14 log(12) |
= + 14 log(2 + ) = 1,4789… |
Zum Vergleich: Die Länge der Diagonalen des Einheitsquadrats ist gleich = 1,4142… Wir machen also keinen allzu großen Umweg, wenn wir anstelle der Diagonalen auf dem Parabelbogen von (0, 0) nach (1, 1) laufen.