5. Vorlesung Trigonometrische Funktionen

1. Winkel im Bogenmaß

Definition (Kreis)

Sei r  ∈  +0. Dann heißt

Kr  =  { (x, y)  ∈  2 | x2 + y2 = r2 }

der Kreis oder genauer die Kreislinie mit Radius r und Mittelpunkt 0 = (0, 0) der Ebene 2. Der Kreis K = K1 heißt der Einheitskreis in 2.

Definition (Winkel im Bogenmaß)

Ist P ein Punkt auf dem Einheitskreis K, so heißt die Länge α  ∈  [ 0, 2π [ des Kreisbogens von K, der gegen den Uhrzeigersinn von (1, 0) zu P führt, der von P und der x-Achse eingeschlossene Winkel (im Bogenmaß) im Intervall [ 0, 2π[.

Konvention

Indem wir reelle Zahlen, die sich nur um ein ganzzahliges Vielfaches von 2π unterscheiden, miteinander identifizieren, können wir jede reelle Zahl als Winkel auffassen. Für alle α  ∈   gibt es dann einen Punkt P auf dem Einheitskreis mit dem Winkel α. Zwei Winkel, die demselben Punkt P entsprechen, unterscheiden sich um ein ganzzahliges Vielfaches von 2π.

2. Kosinus und Sinus

Definition (Kosinus und Sinus als Koordinatenfunktionen)

Sei α  ∈  , und sei P der Punkt des Einheitskreises K mit Winkel α. Dann setzen wir

cos(α) =  „die x-Koordinate von P“,
sin(α) =  „die y-Koordinate von P“.

Die so definierten Funktionen cos :    und sin :    heißen die Kosinus-Funktion bzw. Sinus-Funktion auf .

Liegt also P auf K mit Winkel α, so gilt nach Definition

P  =  (cos(α), sin(α)).

 Aufgrund unserer Identifizierung von Winkeln sind die Kosinus- und Sinusfunktion 2π-periodisch, d. h. es gilt

cos(α + k2π)  =  cos(α),

sin(α + k2π)  =  sin(α)  für alle α  ∈   und k  ∈  .

Notation

Wir lassen Funktionsklammern oft weg und schreiben sin x, cos x statt sin(x), cos(x). Weiter schreiben wir sin2 x, cos2 x statt (sin x)2, (cos x)2.

3. Interpretationen

Dynamische Interpretation: Gleichmäßige Kreisbewegung

Bewegt sich ein Punkt P in der Zeit t auf dem Einheitskreis gleichmäßig gegen den Uhrzeigersinn mit der Winkelgeschwindigkeit 1 und gilt P(0) = (1, 0), so gilt

P(t)  =  (cos(t), sin(t))  für alle t  ∈  .

Geometrische Interpretation: Längentreue Kreisaufwicklung

Sei x  ∈  . Wickeln wir eine Strecke von 0 bis x längentreu auf den Einheitskreis auf (gegen den Uhrzeigersinn für x ≥ 0, im Uhrzeigersinn für x < 0), so endet diese Kreisaufwicklung im Punkt

P(x)  =  (cos(x), sin(x))  ∈  K.

4. Spezielle Werte

Satz (elementare Werte von cos und sin)

Für alle k  ∈   gilt:

(a)

cos(π/2 + kπ)  =  0,  sin(kπ)  =  0,(Nullstellen)

(b)

cos(kπ)  =  (−1)k,  sin(π/2 + kπ)  =  (−1)k,(±1-Werte)

(c)

cos(π/4 + kπ)  =  sin(π/4 + kπ)  =  (−1)k 2/2.(gleiche Werte)

Zudem gibt es keine weiteren Nullstellen, Stellen mit Wert ±1 und Stellen mit gleichem Wert.

5. Eigenschaften von Kosinus und Sinus

Satz (elementare Eigenschaften von cos und sin)

Für alle α  ∈   gilt:

(a)

cos2α  +  sin2α  =  1,(Satz des Pythagoras für Kosinus und Sinus)

(b)

cos α  =  cos (−α),  sin α  =  − sin(−α),(Parität)

(c)

cos(π/2 − α)  =  sin α,  sin(π/2 − α)  =  cos α,(Spiegelung)

(d)

cos(α + π/2)  =  − sin α,  sin(α + π/2)  =  cos α,

cos(α + π)  =  − cos α,  sin(α + π)  =  − sin α,

cos(α + 3π/2)  =  sin α,  sin(α + 3π/2)  =  − cos α,

cos(α + 2π)  =  cos α,  sin(α + 2π)  =  sin α.(Verschiebungsformeln)

 Die erste Eigenschaft folgt aus dem Satz des Pythagoras. Die anderen Eigenschaften ergeben sich aus den folgenden allgemeinen geometrischen Transformationen:

Spiegelung im Nullpunkt

Bei der Spiegelung am Nullpunkt geht ein Punkt (x, y) über in den Punkt −(x, y) = (−x, −y).

Spiegelung an den Achsen

Bei der Spiegelung an der x-Achse geht ein Punkt (x, y) über in (x, −y). Bei der Spiegelung an der y-Achse geht (x, y) über in (−x, y).

Spiegelungen an der ersten und zweiten Winkelhalbierenden

Bei der Spiegelung an der Winkelhalbierenden (des ersten und dritten Quadranten) geht ein Punkt (x, y) über in (y, x). Bei der Spiegelung an der Winkelhalbierenden des zweiten und vierten Quadranten geht (x, y) über in (−y, −x).

Drehungen um π/2

Bei der Drehung um π/2 (gegen den Uhrzeigersinn) geht ein Punkt (x, y) über in (−y, x). Bei der Drehung um π/2 im Uhrzeigersinn geht (x, y) über in (y, −x).

6. Die Additionstheoreme

 Seien P = (cos α, sin α) ein Punkt auf dem Einheitskreis und β  ∈  . Drehen wir P um den Winkel β, so erhalten wir den Punkt

Q  =  (cos(α + β), sin(α + β))

des Einheitskreises. Den Punkt Q können wir auch so beschreiben:

 P ist die Summe der Vektoren v = (cos α, 0) und w = (0, sin α). Weiter ist Q die Summe der um β gedrehten Vektoren v und w, die wir v* und w* nennen wollen. Der Vektor v* ist der um cos α skalierte um β gedrehte Einheitsvektor e1 = (1, 0), sodass

v*  =  cos(α) (cos β, sin β).

Ebenso ist der Vektor w* der um sin α skalierte und um β gedrehte Einheitsvektor e2= (0, 1), sodass

w*  =  sin(α) (− sin β, cos β).

Damit gilt:

Q =  cos α (cos β, sin β)  +  sin α (− sin β, cos β)
=  (cos α cos β − sin α sin β,  cos α sin β + sin α cos β).

Durch Koordinatenvergleich erhalten wir:

Satz (Additionstheoreme für Kosinus und Sinus)

Für alle α, β  ∈   gilt:

(a)

cos(α + β)  =  cos α cos β  −  sin α sin β,

(b)

sin(α + β)  =  cos α sin β  +  sin α cos β.

Korollar (Verdopplungsformeln)

Für alle α  ∈   gilt:

(a)

sin(2α)  =  sin α cos α  +  cos α sin α  =  2 sin α cos α,

(b)

cos(2α)  =  cos α cos α  −  sin α sin α  =  cos2α  −  sin2α.

7. Die Drehformel

 Seien P1 = (x1, y1) = (cos α, sin α) und P2 = (x2, y2) = (cos β, sin β) Punkte auf dem Einheitskreis mit den Winkeln α bzw. β. Drehen wir P1 um den Winkel β oder gleichwertig P2 um den Winkel α, so erhalten wir den Punkt

Q =  (cos α cos β − sin α sin β,  cos α sin β + sin α cos β)
=  (x1 x2 − y1 y2,  x1 y2 + y1 x2).(Drehformel)

8. Weitere trigonometrische Funktionen

Definition (Tangens, Kotangens, Sekans, Kosekans)

Wir definieren

tan  =  sincos,  cot  =  cossin,  sec  =  1cos,  csc  =  1sin.

Die Funktionen heißen der Tangens, Kotangens, Sekans bzw. Kosekans.

 Die Funktionen sind genau an den Nullstellen der Nenner nicht definiert. Es gilt

tan, sec  :   − A    mit  A  =  { π/2 + k π | k  ∈   },

cot, csc  :   − B    mit  B  =  { k π | k  ∈   }.

 Die Additionstheoreme für den Kosinus und Sinus liefern:

Satz (Additionstheoreme für Tangens, Kotangens)

Für alle α, β  ∈   gilt unter der Voraussetzung der Definiertheit:

(a)

tan(α + β)  =  tan α + tan β1 − tan α tan β,

(b)

cot(α + β)  =  cot α cot β − 1cot α + cot β.