8. Vorlesung Ableitungsregeln
1. Der Kalkül des Differenzierens
Satz (Ableitungsregeln)
Unter der Voraussetzung der Definiertheit der Funktionsanwendungen und Existenz der Ableitungen gilt für alle reellen Funktionen f, g:
(a) | (a f + b g)′(p) = a f ′(p) + b g′(p) für alle a, b ∈ ℝ,(Linearität) |
(b) | (f g)′(p) = f ′(p) g(p) + f (p) g′(p), (Produktregel) |
(c) | (f/g)′(p) = f ′(p) g(p) − g′(p) f (p)g2(p), (Quotientenregel) |
(d) | (g ∘ f)′(p) = g′(f (p)) · f ′(p), (Kettenregel) |
(e) | (f −1)′(f (p)) = 1f ′(p), falls f ′(p) ≠ 0. (Ableitung der Umkehrfunktion) |
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Regeln zu beweisen:
Möglichkeit 1: Wir berechnen die Differentialquotienten.
Möglichkeit 2: Wir verwenden den linearen Approximationssatz.
Exemplarisch zeigen wir:
Beweis der Produktregel mit Hilfe des Approximationssatzes
Seien f und g differenzierbar an der Stelle p, sodass
f (x) | = f (p) + f ′(p) (x − p) + o(x − p), |
g(x) | = g(p) + g′(p) (x − p) + o(x − p) für x → p. |
Dann gilt
(f · g)(x) | = f (x) · g(x) |
= f (p) g(p) + f (p) g′(p) (x − p) + f ′(p) g(p) (x − p) + o(x − p) | |
= f (p) g(p) + (f (p)g′(p) + f ′(p) g(p))(x − p) + o(x − p) für x → p. |
Dabei enthält das „o“ in der zweiten Zeile die Summe
(f (p) + g(p) + f ′(p) (x − p) + g′(p) (x − p)) o(x − p) + o((x − p)2).
Nach dem Approximationssatz ist also die Produktfunktion fg differenzierbar an der Stelle p und es gilt
(f g)′(p) = f ′(p) g(p) + f (p) g′(p).
2. Einfache Ableitungen
Mit Hilfe der geometrischen Summe haben wir gezeigt, dass dxn/dx = n xn − 1 für alle n ≥ 1 gilt. Aufgrund der Linearität der Ableitung ergibt sich folgende Ableitungsregel für Polynome:
ddx(an xn + … + a2 x2 + a1 x + a0) = n an xn − 1 + … + 2 a2 x + a1.
Die Ableitung einer rationalen Funktion f/g ergibt sich aus der Ableitungsregel für Polynome und der Quotientenregel:
(f/g)′ = f ′ g − g′ fg2.
Für die Exponentialfunktion gilt nach unserer Charakterisierung
exp′ = exp.
Die Ableitung der Logarithmus erhalten wir mit Hilfe der Regel für die Ableitung der Umkehrfunktion:
ddx log x = 1exp′(log x) = 1exp(log x) = 1x.
Die Ableitung der allgemeinen Exponentialfunktionen können wir mit der Kettenregel bestimmen. Für alle a > 0 gilt:
ddxax = ddxex log a = ex log a ddx(x log a) = ax log a.
Damit gilt expa′ = log(a) expa. Für die Umkehrfunktionen erhalten wir
ddx loga x = 1expa′(loga x) = 1log(a) expa(loga x) = 1log(a) x.
Für die Potenzfunktionen gilt schließlich
ddx xa = ddx ea log x = ea log x ddx(a log x) = xa ax = a xa − 1,
in Übereinstimmung und Verallgemeinerung der Ableitungsregel für die Monome xn.
3. Die Ableitungen von Kosinus und Sinus
Eine Betrachtung der Graphen von Kosinus und Sinus legt die Hypothese nahe, dass cos′ = − sin und sin′ = cos. Um die Hypothese zu beweisen, zeigen wir zunächst:
Satz (Ableitungen vom Kosinus und Sinus im Nullpunkt)
Es gilt: limx → 0 sin xx = 1, limx → 0 cos x − 1 x = 0.
Damit ist sin′(0) = 1 und cos′(0) = 0.
Beweis
Wir zeigen die Aussage für den Sinus. Die Aussage für den Kosinus kann ähnlich bewiesen werden. Wegen sin(−x) = −sin x können wir uns auf positive x beschränken. Sei also x ∈ ] 0, π/2 [. Wir betrachten die Punkte
A = (1, 0), P = (cos x, sin x) ∈ K1, Q = (1, tan x),
sodass Q auf der Geraden OP liegt und OAQ ein rechtwinkliges Dreieck bildet. Es gilt
(+) sin x2 ≤ x2 ≤ tan x2,
denn die drei Größen sind der Reihe nach die Flächen
des Dreiecks OAP, des Kreissegments OAP, des Dreiecks OAQ.
Umformen liefert
(++) cos x ≤ sin xx ≤ 1.
Da cos x gegen 1 strebt, wenn x gegen 0 strebt, folgt die Behauptung. Wegen
sin xx = sin x − sin 0x − 0
ist also sin′(0) = 1.
Der Sinus-Grenzwert lässt sich veranschaulichen: Für kleine x ist die Bogenlänge x ungefähr gleich sin x, sodass das Verhältnis der beiden Größen ungefähr gleich 1 ist.
Mit Hilfe der Additionstheoreme ergibt sich nun:
Satz (Ableitungen des Kosinus und Sinus)
Es gilt cos′ = −sin und sin′ = cos.
Beweis
Sei x ∈ ℝ beliebig. Dann gilt
ddx sin x | = limh → 0 sin(x + h) − sin xh |
= limh → 0 sin x cos h + cos x sinh − sin xh | |
= limh → 0 (sin x cos h − 1h + cos x sin hh) | |
= sin x · 0 + cos x · 1 = cos x. |
Die Kosinus-Ableitung wird analog bewiesen oder mit Hilfe der Formel cos x = sin(π/2 − x) und der Kettenregel aus der Sinus-Ableitung gewonnen.
Bemerkenswert ist:
Dynamische Argumentation
Bewegt sich ein Punkt P mit P(0) = (1, 0) in der Zeit t auf dem Einheitskreis K1 mit der Winkelgeschwindigkeit 1 gegen den Uhrzeigersinn, so gilt:
P(t) = (cos t, sin t) für alle t ∈ ℝ.
Sei t ∈ ℝ beliebig. Dann ist Q(t) = (cos′ t, sin′ t) ist der Geschwindigkeitsvektor des Punktes zur Zeit t. Dieser Vektor steht senkrecht auf P(t) und hat die Länge 1. Genauer ist Q(t) um π/2 (gegen den Uhrzeigersinn) gedrehte Vektor P(t). Da (x, y) bei der Drehung um π/2 in (−y, x) übergeht, gilt
(cos′ t, sin′ t) = Q(t) = (−sin t, cos t).
Folglich ist cos′ t = −sin t und sin′ t = cos t.
4. Überblick
Mit Hilfe der Ableitungsregeln erhalten wir:
Funktion | Ableitung | Funktion | Ableitung |
sin x | cos x | cos x | − sin x |
tan x | sec2 x | cot x | − csc2 x |
sec x | sec x tan x | csc x | − csc x cot x |
arcsin x | arccos x | − | |
arctan x | 11 + x2 | arccot x | − 11 + x2 |
arcsec x | arccsc x | − |
Für die hyperbolischen Funktionen gilt:
Funktion | Ableitung | Funktion | Ableitung |
sinh x | cosh x | cosh x | sinh x |
tanh x | sech2 | coth x | − csch2 x |
sech x | − sech x tanh x | csch x | − csch x coth x |
arsinh x | arcosh x | ||
artanh x | 11 − x2 | arcoth x | 11 − x2 |
arsech x | − | arcsch x | − |
5. Potenzreihendarstellungen
Für die Funktionen exp, cosh, sinh, cos, sin gilt:
Die Funktion … | … erfüllt die Differentialgleichung … | … und besitzt die Anfangswerte … |
exp | f ′ = f | f (0) = 1 |
cosh | f ″ = f | f (0) = 1, f ′(0) = 0 |
sinh | f ″ = f | f (0) = 0, f ′(0) = 1 |
cos | f ″ = −f | f (0) = 1, f ′(0) = 0 |
sin | f ″ = −f | f (0) = 0, f ′(0) = 1 |
Durch (naives) gliedweises Differenzieren einer Potenzreihe
a0 + a1 x + a2 x2 + … + an xn + … = ∑n ≥ 0 an xn
lassen sich aufgrund dieser Eigenschaften die folgenden Reihen-Darstellungen finden:
exp x = 1 + x + x22 + x36 + … = ∑n ∈ ℕ xnn!
cosh x = 1 + x22 + x424 + … = ∑n ∈ ℕ x(2n)(2n)!
sinh x = x + x36 + x5120 + … = ∑n ∈ ℕ x(2n + 1)(2n + 1)!
cos x = 1 − x22! + x44! − x66! + … = ∑n (−1)n x2n(2n)!
sin x = x − x33! + x55! − x77! + … = ∑n (−1)n x2n + 1(2n + 1)!
Man kann zeigen, dass die Darstellung in der Tat für alle x ∈ ℝ gültig sind.