2.Ein Satz und sein Beweis

 Wir betrachten exemplarisch den folgenden allgemeinen Satz über Funktionen:

Satz (Verknüpfung zweier Injektionen)

Seien f : A  B und g : B  C injektiv. Weiter sei h = g ∘ f. Dann ist h injektiv.

 Bevor wir diesen Satz beweisen, wollen wir ihn genau lesen. Der Satz beginnt mit:

„Seien f : A  B und g : B  C injektiv.“

Dies sind die Voraussetzungen des Satzes. Gegeben sind zwei Injektionen. Die eine Injektion heißt f, die andere g. Die Funktionen sind in der Form f : A  B und g : B  C notiert. Die Mengen A, B, C sind nicht weiter spezifiziert und der Satz ist damit sehr allgemein. Es kann sich um Funktionen der Form f, g :    handeln, aber auch um Funktionen der Form f :    und g :   . Oder um f : { 0, 1, 2 }  { 1, 2, 3 } und g : { 1, 2, 3 }  { 1, …, 12 }. Kurz: Die Mengen A, B und C sind beliebig.

 Wichtig ist, dass der angegebene Wertevorrat von f mit dem Definitionsbereich von g übereinstimmt. Für alle a  ∈  A ist b = f (a) ein Element von B, sodass g(b) definiert ist. Damit ist die Verknüpfung g ∘ f erklärt. Es gilt g ∘ f : A  C. Im Satz wird dieser Verknüpfung ein Name gegeben:

„Weiter sei h = g ∘ f.“

Ab jetzt haben wir also drei Objekte vorliegen. Die Funktionen f und g sind gegeben und mit ihrer Hilfe wird eine weitere Funktionen eingeführt, nämlich h. Anstelle von h können wir immer auch g ∘ f schreiben und anstelle von h(a) immer auch g(f (a)), für alle a  ∈  A. Wir können h als Abkürzung für g ∘ f auffassen.

 Nun ist die „Bühne“ fertig und das „Stück“ kann beginnen: Was behauptet der Satz? Er behauptet, dass die Funktion h injektiv ist. Mit anderen Worten: Der Satz behauptet, dass sich die Eigenschaft „injektiv“ von zwei Funktionen f und g auf ihre Verknüpfung h = g ∘ f überträgt. Wir können den Satz äquivalent und ohne jede Verwendung mathematischer Zeichen auch so formulieren:

„Die Verknüpfung zweier Injektionen ist wieder eine Injektion.“

Das ist sogar kürzer als die obige Version und (auf den ersten Blick) weniger formal. Warum wir die obige Formulierung gewählt haben hat einen einfachen Grund: Sie hilft uns beim Beweis des Satzes. Die Objekte haben bereits einen Namen. Der Beweis kommt dadurch leichter in Gang.

Ausführlicher Beweis des Satzes

Nach Voraussetzung sind f und g injektiv, es gilt also

(1)  ∀a, a′  ∈  A (f (a) = f (a′)    a = a′),

(2)  ∀b, b′  ∈  B (g(b) = g(b′)    b = b′).

Wir zeigen, dass h injektiv ist, d. h. wir zeigen:

(Ziel 1)  ∀a, a′  ∈  A (h(a) = h(a′)    a = a′).

Zum Beweis seien a, a′  ∈  A beliebig. Wir zeigen:

(Ziel 2)  h(a) = h(a′)    a = a′.

Zum Beweis dieser Implikation nehmen wir an:

(3)  h(a) = h(a′).

Unter Verwendung von (1), (2) und (3) zeigen wir nun:

(Ziel 3)  a = a′.

Nach Annahme (3) und der Definition von h gilt

(4)  g(f (a))  =  g(f (a′)).

Nach (4) und der Voraussetzung (2) der Injektivität von g gilt

(5)  f (a)  =  f (a′).

Nach (5) und der Voraussetzung (1) der Injektivität von f gilt a = a′. Damit haben wir unser Ziel erreicht.

 Unser Beweis beginnt mit der Ausformulierung der Voraussetzungen der Injektivität von f und g: In (1) und (2) haben wir die Definition von „injektiv“ eingesetzt, angepasst an den aktuellen Kontext f : A  B und g : B  C.

 Die Aussagen (1) und (2) haben wir im Beweis zur Verfügung. Dagegen ist die Aussage (Ziel 1) zu beweisen. Wir nennen sie unser aktuelles Beweisziel.

 Unser Beweisziel ist eine doppelte Allaussage über Elemente der Menge A. Wir nehmen also zwei beliebige Elemente a und a′ von A als gegeben an. Diese Objekte sind von nun an fest. Wir haben zwei Objekte a und a′ vorliegen, von denen wir nur wissen, dass sie der Menge A angehören. Sonst wissen wir nichts. Wir wissen noch nicht einmal, ob a = a′ oder a ≠ a′ gilt.

 Unser neues Beweisziel ist die Aussage (Ziel 2). Diese Aussage hat die Form einer Implikation. Um diese Implikation zu beweisen, nehmen wir ihre linke Seite „h(a) = h(a′)“ an. Damit haben wir eine neue Voraussetzung, nämlich (3), und ein neues Beweisziel, nämlich (Ziel 3).

 Wir setzen nun die Definition von h in (3) ein und erhalten (4). Da g nach (2) injektiv ist und die Anwendung von g auf die Elemente f (a) und f (a′) der Menge B nach (4) den gleichen Funktionswert ergibt, gilt f (a) = f (a′). Also haben wir (5) aus unseren Annahmen gefolgert. Da f nach (1) injektiv ist und f (a) = f (a′) nach (5) gilt, ist a = a′. Damit ist unser aktuelles Ziel erreicht und der Beweis fertig.

 Wir haben das Argument ausführlich notiert und die einzelnen Schritte durchgezählt, um sie kommentieren zu können und um das Wechselspiel von „was habe ich“ und „wo will ich hin“ zu verdeutlichen. Die Struktur der Argumentation wiederholt sich in vielen Beweisen, und die ausführliche Form ist irgendwann eher hinderlich als nützlich, eher opak als transparent. Eine kompaktere Version des Beweises lautet:

Beweis

Seien a, a′  ∈  A beliebig. Es gelte h(a) = h(a′), d. h. g(f (a)) = g(f (a′)). Da g injektiv ist, ist f (a) = f (a′). Da f injektiv ist, ist a = a′. Also ist h injektiv.

 Aus einer halben Seite sind zwei Zeilen geworden. Es steckt eine ganze Menge in diesen zwei Zeilen, aber sie enthalten alles, was für den Beweis wichtig ist.