Stetigkeit
Anschaulich lässt sich die Stetigkeit einer Funktion so beschreiben:
Die Funktion macht keine Sprünge.
Die Funktionswerte ändern sich wenig, wenn sich die Stelle hinreichend wenig ändert.
Mit Hilfe des Grenzwertbegriffs für Funktionen können wir die Stetigkeit in einfacher Weise exakt definieren:
Definition (Stetigkeit einer Funktion)
Sei f : P → ℝ, und sei p ∈ P. Dann heißt f stetig an der Stelle p, falls gilt:
limx → p f (x) = f (p).
Andernfalls heißt f unstetig an der Stelle p. Weiter heißt f stetig, falls f stetig an allen Stellen p ∈ P ist.
Bemerkung
(1) | Eine Aussage „f ist stetig/unstetig bei p“ beinhaltet immer, dass p ein Element des Definitionsbereichs P von f ist. Die Funktion 1/x ist stetig (ergänze: überall auf ihrem Definitionsbereich ℝ*). Es ergibt keinen Sinn zu sagen, dass 1/x unstetig im Nullpunkt ist, weil die Funktion dort nicht definiert ist. |
(2) | Da p ein Element des Definitionsbereichs von f ist, liegt f (p) in allen betrachteten Rechtecken. Damit ist die Bedingung limx → p f (x) = f (p) äquivalent zur Existenz des Grenzwerts limx → p f (x). Wenn dieser Grenzwert existiert, muss er gleich f (p) sein. |
Die Bedingung limx → p f (x) = f (p) können wir in der Form
limx → p f (x) = f(limx → p x)
schreiben, die eine suggestive Interpretation der Stetigkeit nahelegt:
Limesbildung und Funktionsanwendung sind vertauschbar.
Ausformuliert und mit Quantoren notiert lautet unsere Definition:
Epsilon-Delta-Formulierung der Stetigkeit von f an der Stelle p
∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀x ∈ P (|x − p| < δ → |f (x) − f (p)| < ε)
Gleichwertig:
∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀x ∈ P ∩ ] p − δ, p + δ [ |f (x) − f (p)| < ε
Für die Stetigkeit von f (an allen Stellen) kommt noch ein weiterer Allquantor „∀p ∈ P“ davor. Die Reihenfolge der Quantoren ist genau zu beachten.
Zur ε-δ-Stetigkeit an der Stelle p: f verläuft im ε-δ-Rechteck bei (p, f (p)). Wird ε verkleinert, kann auch δ geeignet verkleinert werden, sodass der Verlauf im Rechteck erhalten bleibt.
Aufgrund der Quantorenformulierung wird unsere Stetigkeitsdefinition auch ε-δ-Stetigkeit genannt. Daneben ist auch Umgebungsstetigkeit üblich, da für eine beliebig kleine Umgebung U von f (p) eine Umgebung V von p existiert derart, dass f die gesamte Umgebung V von p in die Umgebung U von f (p) abbildet. In dieser „topologischen Form“ wird die Stetigkeit in der Mathematik heute in allgemeineren Räumen erklärt, in denen ein Umgebungsbegriff definiert ist.
Die Stetigkeit von f bedeutet nicht, dass man den Graphen von f ohne abzusetzen zeichnen kann. Der Stetigkeitsbegriff ist wesentlich allgemeiner. Zum einen haben wir bereits gesehen, dass etwa die Funktion f : ℝ* → ℝ mit f (x) = 1/x für alle x ∈ ℝ* stetig ist. Sie lässt sich aber nicht zeichnen, ohne abzusetzen, da sie im Nullpunkt nicht definiert ist. Nun könnte man einwenden, dass f natürlich auf einem Intervall definiert sein muss, damit die Anschauung greift. Aber auch dann ist die Anschauung nicht korrekt. Weierstraß zeigte, dass es stetige Funktionen gibt, die an keiner Stelle differenzierbar sind. Derartige Funktionen kann man nicht zeichnen ohne abzusetzen. Korrekt ist: Kann man den Graphen einer auf einem Intervall definierten Funktion f zeichnen, ohne abzusetzen, so ist f stetig.
Eine Zackenfunktion f : [ 0, 1 ] → ℝ mit Zacken der Höhe 1, 1/2, 1/3, …, 1/n, … Die Funktion ist stetig (auch im Nullpunkt), kann aber nicht ohne abzusetzen gezeichnet werden: Ihr Graph besitzt aufgrund der Divergenz der harmonischen Reihe eine unendliche Länge, da jeder Zacken länger als 1/n ist.
Partialsummen fn einer Weierstraß-Funktion f : ℝ → ℝ:
f (x) = ∑n (1/2n) cos(3n π x), fn(x) = ∑k ≤ n (1/2k) cos(3k π x) für alle x ∈ ℝ.
Die Funktion f ist überall stetig, aber nirgendwo differenzierbar.
In der Analysis zeigt man:
Satz (Stetigkeit der elementaren Funktionen)
Alle elementaren Funktionen sind stetig.
Zum Beweis dieses Satzes wird zuerst nachgewiesen, dass alle Grundfunktionen, aus denen die elementaren Funktionen aufgebaut werden (Polynome, Exponentialfunktionen, trigonometrische Funktionen) stetig sind. Weiter zeigt man, dass die Operationen der Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, Verknüpfung und Umkehrung stetige Funktionen ergeben, wenn sie auf stetige Funktionen angewendet werden. Damit ist der Satz bewiesen, denn die elementaren Funktionen werden aus den Grundfunktionen mit Hilfe dieser Operationen aufgebaut.
Vieles ist also stetig, aber nicht alles:
Beispiele für unstetige Funktionen
(1) | Die Vorzeichenfunktion sgn : ℝ → ℝ mit sgn(x) = −1 für x < 0, sgn(0) = 0, sgn(x) = 1 für x > 0 ist unstetig im Nullpunkt und in allen anderen Punkten stetig. Das Gleiche gilt für die Variante der Vorzeichenfunktion, die im Nullpunkt den Wert 1 besitzt. |
(2) | Die Funktion f : ℝ → ℝ mit f (x) = sin(1/x) für x ≠ 0, f (0) = 0 ist unstetig im Nullpunkt und in allen anderen Punkten stetig. |
(3) | Die Dirichlet-Sprungfunktion f : [ 0, 1 ] → ℝ mit f (x) = 1, falls x rational, f (x) = 0, falls x irrational ist an allen Stellen unstetig. |
(4) | Die Funktion f : ℝ → ℝ mit f (x) = x, falls x rational, f (x) = − x, falls x irrational, ist im Nullpunkt stetig und an allen anderen Stellen unstetig. |
(5) | Die Thomae-Funktion f : ℝ → ℝ mit f (x) = 0, falls x irrational, f (m/n) = 1/n für gekürzte Brüche m/n mit n ≥ 1 ist stetig an allen irrationalen und unstetig an allen rationalen Stellen. |
Die sgn-Funktion ist unstetig an der Stelle p = 0: Für ε = 1/2 verläuft sgn nicht im ε-δ-Rechteck bei (0, 0) = (0, sgn(0)), wie klein δ > 0 auch gewählt wird.
Die Funktion f mit f (x) = sin(1/x) für x ≠ 0 und f (0) = 0 ist an der Stelle 0 unstetig.
Die Thomae-Funktion ist genau an den irrationalen Stellen stetig.