Motivation

 Die Geschichte des Zahlbegriffs ist durch schrittweise Erweiterungen geprägt, die alle einer gewissen Zeit bedurften, um als Erweiterungen des Zahlbegriffs anerkannt zu werden: Die Null, rationale Zahlen als Zahlen (nicht nur als Zahlverhältnisse), negative Zahlen, irrationale Zahlen. Einen Höhepunkt der Entwicklung stellen die reellen Zahlen dar, die sich aufgrund ihrer Vollständigkeit als Modell eines Linearkontinuums bewährt haben. Es stellt sich die Frage:

Können die reellen Zahlen noch einmal erweitert werden oder ist  der Abschluss der Entwicklung?

 Eine mögliche Erweiterung ist bereits in der Frühgeschichte der Analysis angelegt: Infinitesimale Größen wie dx und df (x)/dx in der Leibniz-Notation. Das Modell  und die Fundierung der Analysis mit Hilfe der Epsilontik zeigt, dass infinitesimale Größen nicht nötig sind, um die Differential- und Integralrechnung aufbauen zu können. Dennoch blieb die Frage nach der Möglichkeit solcher Größen, und diese Frage ist im 20. Jahrhundert mit der Nonstandard-Analysis positiv beantwortet worden. Damit kann  (unter Preisgabe des Archimedischen Axioms und damit der linearen Vollständigkeit) tatsächlich noch einmal erweitert werden. Aber auch eine ganz andere Erweiterung ist möglich, und um diese Erweiterung soll es hier gehen. Wir betrachten hierzu zwei verschiedene Zugänge. Der erste entspricht grob der historischen Entwicklung, der zweite der mathematik-intrinsischen Suche nach Struktur. Der Leser, der die komplexen Zahlen möglichst schnell kennenlernen möchte, kann die Motivationen überschlagen.

Motivation I: Wurzeln negativer Zahlen

Die Gleichung x2 = −1 hat keine Lösung in . Setzen wir rein formal

i  =  1

und rechnen wir mit i wie üblich, so gilt i2 = −1 und (−i)2 = −1, sodass die Gleichung x2 = −1 zwei Lösungen besitzt, wie es ja für viele Gleichungen zweiten Grades der Fall ist. Wenn i eine Zahl sein soll, so sind auch x + i y für alle x, y  ∈   Zahlen. Rechnen wir wie üblich, so gilt für alle x1, x2, y1, y2  ∈  :

(x1 + i y1)  +  (x2 + i y2) =  (x1 + x2)  +  i (y1 + y2).
(x1 + i y1)  ·  (x2 + i y2) =  x1x2  +  i x1 y2  +  i y1 x2  +  i2 y1 y2
=  (x1 x2 − y1 y2)  +  i (x1 y2 + x2 y1).

Je länger wir in dieser Weise rein formal rechnen, desto mehr entsteht der Eindruck, dass in den Ausdrücken x + i y neue Zahlen vorliegen, die sich von der ursprünglichen Motivation der „negativen Wurzeln“ lösen. Die neue Zahl i ist eine Zahl, deren Quadrat −1 ergibt. Das ist ungewöhnlich, aber nicht offensichtlich widersprüchlich, da ja nicht behauptet wird, dass i eine reelle Zahl ist und dass die neuen Zahlen in allen Aspekten mit den reellen Zahlen übereinstimmen. Der Wunsch nach einer Präzisierung entsteht, um „vermutlich nicht widersprüchlich“ zu „nicht widersprüchlich“ zu verbessern. Da nun eine Zahl x + iy vollkommen durch die beiden beteiligten reellen Zahlen x, y bestimmt ist, kann man auf die Idee kommen, eine Zahl x + iy mit dem Punkt (oder Vektor) (x, y)  ∈  2 der Ebene zu identifizieren. Diese Idee wird auch dadurch nahegelegt, dass die Formel für die Addition an eine Vektoraddition erinnert und die Formel für die Multiplikation zumindest den Kenner an die Drehformel für Vektoren der Ebene denken lässt. Fassen wir Größen x + i y als Punkte (x, y) der Ebene auf, so werden die Zahlen x + iy = (x, y)  ∈  2 anschaulich und dem Reich des Imaginären entrückt. Wegen i = 0 + i 1 ist speziell

i  =  (0, 1)

der kanonische Einheitsvektor auf der y-Achse. Weiter lässt sich wie üblich die Menge  der reellen Zahlen als Teilmenge von 2 auffassen, indem eine reelle Zahl x mit dem Punkt (x, 0) identifiziert wird.

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Eine komplexe Zahl x + iy als Punkt (x, y) der Ebene

 Damit haben wir eine Erweiterung der reellen Zahlen gefunden, die dem Zahlenstrahl keine neuen Punkte mehr hinzufügt, sondern eine zweite Dimension. Der entscheidende Unterschied zur Vektorrechnung der Ebene ist die eigenartige Multiplikation, die sich aber zum Glück geometrisch mit Hilfe von Drehungen anschaulich deuten lässt.

Motivation II: Eine „gute“ Multiplikation für die Ebene

Für eine beliebige Dimension n ≥ 1 können wir zwei Vektoren des reellen Raumes n = { (x1, …, xn) | x1, …, xn  ∈   } durch Addition ihrer Komponenten addieren. Für den Fall n = 2 gilt für alle (x1, y1), (x2, y2)  ∈  2:

(x1, y1)  +  (x2, y2)  =  (x1 + x2,  y1 + y2).(komponentenweise Addition)

Diese Addition teilt mit der reellen Addition alle wesentlichen Eigenschaften. Beispielsweise gelten das Assoziativ- und Kommutativgesetz. Folgende Frage ist damit nur natürlich:

Lassen sich Vektoren der Ebene (oder allgemeiner des n) nicht nur addieren, sondern auch so multiplizieren, dass die üblichen Rechenregeln gelten?

Die Aufgabe lautet also: Finde eine „gute Multiplikation“ für die Ebene. Der erste Ansatz ist

(x1, y1)  ·  (x2, y2)  =  (x1 x2,  y1 y2).(komponentenweise Multiplikation)

Für diese Multiplikation gilt aber zum Beispiel

(1, 0)  ·  (0, 1)  =  (1 · 0,  0 · 1)  =  (0, 0),

was im Vergleich zu  keine „gute“ Eigenschaft ist. Auch das Euklidische Skalarprodukt (x1, y1) · (x2, y2) = x1 x2 + y1 y2 ist als Analogon zur reellen Multiplikation nicht überzeugend, da als Werte nur reelle Zahlen auftreten und erneut

(1, 0) · (0, 1)  =  1 · 0  +  0 · 1  =  0

gilt. Wir brauchen also einen neuen Ansatz. Betrachten wir hierzu einen Punkt z = (x, y) auf dem Einheitskreis. Für den Punkt z soll das Inverse 1/z  ∈  2 existieren und es soll z · 1/z = 1 = (1, 0) gelten, wenn 1 = (1, 0) die Rolle der 1 übernimmt. Bei der Betrachtung dieser Inversenbildung kann man auf die Idee kommen, den mit der x-Achse eingeschlossenen Winkel von z zu betrachten: Spiegeln wir den Vektor z  ∈  2 an der x-Achse zu w  ∈  2, so ist w das Inverse von z, wenn die Multiplikation über die Addition von Winkeln erklärt wird. Eine genauere Überlegung zeigt, dass folgende Multiplikationsregel nicht nur für Punkte des Einheitskreises sondern für alle z  ∈  2 „gut“ ist:

Multipliziere die Längen und addiere die Winkel der beiden beteiligten Vektoren.

Eine geometrische Analyse wie bei der Findung der Drehformel zeigt, dass diese Multiplikation in kartesischen Koordinaten durch

(x1, y1)  ·  (x2, y2)  =  (x1 x2 − y1 y2,  x1 y2 + y1 x2)

definiert wird. Damit ist eine gute Multiplikation für die Ebene gefunden.

 Wie sieht es mit den anderen Dimensionen n, n ≥ 3, aus? Die Antwort hierauf ist viel schwieriger zu finden. Das überraschende Ergebnis lautet: Es gibt noch „einigermaßen gute“ Multiplikation im 4 und 8, in den anderen Dimensionen jedoch nicht. Wir verweisen den Leser hierzu auf die Literatur.