Tangentialvektoren
Mit Hilfe der Komponentenfunktionen können wir die Grundbegriffe der Differentialrechnung ohne Schwierigkeit auf Kurven übertragen:
Definition (differenzierbar, Ableitung, Tangentialvektor, regulär, singulär)
Sei f : [ a, b ] → ℝm eine Kurve. Weiter sei t ∈ [ a, b ]. Dann heißt f (stetig) differenzierbar an der Stelle t, falls alle Komponenten f1, …, fm von f an der Stelle t (stetig) differenzierbar sind. Wir setzen dann
f ′(t) = (f1′(t), …, fm′(t)) ∈ ℝm.
Der Vektor f ′(t) heißt die Ableitung oder der Tangentialvektor von f an der Stelle t. Ist f ′(t) ≠ 0, so heißt der Parameter t regulär. Ist f ′(t) = 0, so heißt t singulär. Schließlich heißt f (stetig) differenzierbar, falls f (stetig) differenzierbar für alle t ∈ [ a, b ] ist.
Unter der dynamischen Interpretation ist f ′(t) der Geschwindigkeitsvektor der Kurve f zum Zeitpunkt t. Der Betrag der Geschwindigkeit ist
λ = ∥ f ′(t) ∥ = .
Ist λ ≠ 0, d. h. t ein regulärer Parameter, so ist f ′(v)/λ die normierte Richtung der Geschwindigkeit, und diese Richtung ist tangential zur Spur von f. Ist λ = 0, so steht ein sich gemäß f (t) bewegender Punkt zum Zeitpunkt t still.
Beispiele
(1) | Sei f : [ 0, 2π ] → ℝ2 definiert durch f (t) = ei t = (cos t, sin t) für alle t ∈ [ 0, 2π ]. Dann ist f eine geschlossene Kurve, die die gleichmäßige Bewegung eines Punktes auf dem Einheitskreis gegen den Uhrzeigersinn mit Startpunkt 1 = (1, 0) beschreibt. Die Spur von f ist der Einheitskreis K. Die Kurve ist stetig differenzierbar mit f ′(t) = (cos′ t, sin′ t) = (−sin t, cos t) für alle t ∈ [ 0, 2π]. Der Tangentialvektor f ′(t) hat für alle t ∈ [ 0, 2π ] die Länge 1 und er steht senkrecht auf dem Vektor f (t), da 〈 f (t), f ′(t) 〉 = 〈 (cos t, sin ), (−sin t, cos t) 〉 = 0. |
(2) | Sei f : [ 0, 4π ] → ℝ2 definiert durch f (t) = ei t = (cos t, sin t) für alle t ∈ [ 0, 4π ]. Der Einheitskreis wird nun zweimal durchlaufen. Die Spur von f ist erneut der Einheitskreis K. |
(3) | Sei c ≠ 0, b = 2π/|c|, und sei f : [ 0, b ] → ℝ2 definiert durch f (t) = ei c t = (cos(ct), sin(ct)) für alle t ∈ [ 0, b ]. Der Einheitskreis wird nun mit der Geschwindigkeit c durchlaufen, gegen den Uhrzeigersinn für c > 0 und im Uhrzeigersinn für c < 0. |
(4) | Sei k ∈ ℕ*, und f : [ 0, k2π ] → ℝ3 mit f (t) = (cos t, sin t, t) für alle t ∈ [ 0, k2π ]. Die Kurve f beschreibt eine k-fache Schraubbewegung im dreidimensionalen Raum. |
(5) | Sei g : [ a, b ] → ℝ eine stetige reelle Funktion. Wir definieren die Kurve f : [ a, b ] → ℝ2 durch f (t) = (t, g(t)) für alle t ∈ [ a, b ]. Dann ist f eine Kurve in der Ebene, deren Spur der Graph von g ist. Ist g (stetig) differenzierbar, so gilt dies auch für die Kurve f mit f ′(t) = (1, g′(t)) für alle t ∈ [ a, b ]. Der Leser beachte, dass der Graph von f (den wir wie immer mit f identifizieren) von g zu unterscheiden ist. Es gilt f = graph(f) = { (t, f (t)) | t ∈ [ a, b ] } = { (t, (t, g(t))) | t ∈ [ a, b ] }, g = graph(g) = { (t, g(t)) | t ∈ [ a, b ] } = { f (t) | t ∈ [ a, b ] } = spur(f). Das folgende Diagramm veranschaulicht die Situation für die Funktion g : [ 0, 3 ] → ℝ mit g(t) = arctan(t) für alle t ∈ [ 0, 3 ]. Der Graph von g ist die Spur von f. Die Ableitung von g entspricht der y-Komponente der Tangentialvektoren von f. |
Wir betrachten nun die Visualisierung der Kurvenbegriffe an einem Beispiel noch genauer.
Visualisierung
Sei f : [ 0, 2π ] → ℝ2 mit
f (t) = (cos t, sin t) + 1/4 (cos(4t), sin(4t)) für alle t ∈ [ 0, 2π ].
Die Kurve f ist geschlossen und differenzierbar mit
f ′(t) = (−sin t, cos t) + (− sin(4t), cos(4t)) für alle t ∈ [ 0, 2π ].
Die Spur von f und die Werte f (tk) für die Parameter tk = k π/6, k = 0, …, 12
Die Komponenten f1 und f2 von f
Die Tangentialvektoren von f für obige Parameter. Drei der Vektoren sind 0.
Die Ableitung g = f ′ als Kurve. Es gilt g(t2) = g(t6) = g(t10) = 0, sodass die Parameter t2, t6 und t10 singulär sind. Alle anderen Parameter sind regulär.