Die Kontinuumshypothese
Den Satz von Cantor können wir ansprechend in der folgenden Mächtigkeitsform notieren:
|A| < |℘(A)| für alle Mengen A.(Satz von Cantor, Umformulierung)
Denn aus dem Satz von Cantor folgt, dass |A| ≠ |℘(A)|, und zudem gilt auch |A| ≤ |℘(A)|, denn die Funktion f : A → ℘(A) mit f (a) = { a } für alle a ∈ A ist injektiv. Wiederholte Anwendung des Satzes auf die Menge der natürlichen Zahlen liefert
|ℕ| < |℘(ℕ)| < |℘(℘(ℕ))| < …
Auf den durch diese Folge definieren Unendlichkeitsstufen finden sich einige bekannte Mengen. Man kann zeigen (vgl. die Übungen):
|℘(ℕ)| = |ℕ{ 0, 1 }| = |ℝ| = |ℝ × ℝ| = |ℝn| = |ℕℝ|,
|℘(℘(ℕ))| = |℘(ℝ)| = |ℝℝ|.
Die Menge ℕℝ aller reellen Folgen ist also auf der Unendlichkeitsstufe ℘(ℕ) zu finden, während die Menge ℝℝ aller reellen Funktionen auf der größeren Stufe ℘(℘(ℕ)) lokalisiert ist.
Diese Überlegungen werfen die Frage auf, wie groß die Unendlichkeitssprünge in der Folge
|ℕ| < |℘(ℕ)| < |℘(℘(ℕ))| < …
sind. Nach der Entdeckung der Größenunterschiede im Unendlichen und den subtilen Konstruktionen von Bijektionen wird es nun noch dramatischer. Wir formulieren:
Kontinuumshypothese
Es gibt keine Menge A mit |ℕ| < |A| < |ℝ| (= |℘(ℕ)|).
Allgemeine Kontinuumshypothese
Sei M eine unendliche Menge. Dann gibt es keine Menge A mit
|M| < |A| < |℘(M)|.
Die Kontinuumshypothese wurde von Georg Cantor 1878 formuliert. Sie besagt, dass der Schritt von ℕ nach ℝ so klein wie möglich ist. Die naheliegende Verallgemeinerung behauptet, dass der Schritt von M zur Potenzmenge von M keine Mächtigkeit überspringt, wenn M unendlich ist.
Die beiden Hypothesen sind im Rahmen der üblichen Axiome der Mengenlehre weder beweisbar noch widerlegbar (es sei denn, die Axiome der Mengenlehre sind widersprüchlich). Dass dies so ist, wurde von Kurt Gödel (1937) und Paul Cohen (1963) bewiesen. Es handelt sich also um Beweise der Unbeweisbarkeit einer Aussage (innerhalb einer bestimmten Axiomatik). Da wir die Kontinuumshypothese weder beweisen noch widerlegen können, wissen wir nicht, wie groß die Menge ℝ der reellen Zahlen ist. Ein beunruhigendes Ergebnis, zumal es sich um die neben ℕ wohl wichtigste Grundstruktur der Mathematik handelt. Was könnte diese unbefriedigende Situation ändern? Verschiedene Szenarien sind denkbar:
A) | Neue mengentheoretische Axiome werden gefunden, die die Frage entscheiden. |
B) | Eine alternative Axiomatik wird entwickelt, in der das Diagonalargument, das zum Phänomen der Überabzählbarkeit führt, anders interpretiert wird. |
C) | Ein aufgedeckter Widerspruch der mengentheoretischen Axiomatik bringt das gesamte klassische Gebäude der Mathematik zu Fall oder zumindest kurzfristig ins Wanken. |
Hinsichtlich der Möglichkeit (C) ist der Extremfall denkbar, dass bereits die − letztendlich axiomatisch postulierte − Existenz der unendlichen Menge ℕ der natürlichen Zahlen zu Widersprüchen führt. Die Mathematik müsste dann auf einem gänzlich finitären Boden neu entwickelt werden. Etwas milder wäre der Fall, dass die − ebenfalls axiomatisch postulierte − Existenz der Potenzmenge ℘(ℕ) der natürlichen oder mengentheoretisch gleichwertig der Menge ℝ der reellen Zahlen zu Widersprüchen führt. In diesem Fall müssten die Grundlagen der Analysis revidiert werden.
Letztendlich müssen wir mit unlösbaren Fragen und der Gefahr eines Widerspruchs leben, wenn wir nicht in einer sehr schwachen Theorie arbeiten möchten: Die Unvollständigkeitssätze von Kurt Gödel (1931) besagen, dass jede hinreichend starke widerspruchsfreie Axiomatik Fragen offen lässt, und dass konkret jede solche Axiomatik ihre eigene Widerspruchsfreiheit nicht beweisen kann. Hinreichend stark heißt genauer, dass wir ein gewisses Maß an Zahlentheorie oder endlicher Mengenlehre in der Axiomatik entwickeln können. Im Sinne einer solchen Axiomatik gilt: Die Mathematik kann viel beweisen, aber nicht ihre eigene Widerspruchsfreiheit − es sei denn, sie ist widerspruchsvoll.