Die Russell-Zermelo-Antinomie

 Wir erinnern an die Definition der Mengenklammern:

Definition (Mengenkomprehension)

Seien A eine Menge und (a) eine Eigenschaft. Wir schreiben

A  =  { a | (a) },

falls gilt:

∀a (a  ∈  A  (a)).

 Ist A = { a | (a) }, so sagen wir, dass A die Menge aller (mathematischen) Objekte ist, auf die die Eigenschaft  zutrifft oder die die Eigenschaft  besitzen. Nach Definition ist ein Objekt genau dann ein Element von A, wenn die Eigenschaft  auf das Objekt zutrifft. Für alle b ist b  ∈  { a | (a) } äquivalent zu (b).

ema22-AbbID4-4-1

Die Aussage A = { a | (a) } ist äquivalent zu den beiden folgenden Aussagen:

(1)  Jedes b  ∈  A besitzt die Eigenschaft .

(2)  Jedes c  ∉  A besitzt die Eigenschaft  nicht.

Die Existenz derartiger Mengen A ist weniger harmlos, als sie aussieht.

 Im mathematischen Alltag ist in vielen Fällen nicht eine Menge A gegeben, sondern man startet mit einer Eigenschaft (a) und schreibt:

„Sei A = { a | (a) }.“

Die Komprehension wird hier nicht zur Analyse, sondern zur Definition oder, wenn man so will, Konstruktion einer Menge verwendet. Anschaulich sammeln wir alle Objekte mit der betrachteten Eigenschaft auf und bilden aus diesen Objekten ein Objekt. Das Objekt A, das durch diese Zusammenfassung entsteht, ist eine Menge. Die Objekte, die die Elemente von A bilden, sind beliebig. Eine Menge kann auch Mengen als Elemente enthalten. Hier und im Folgenden kann ein mit einem kleinen Buchstaben bezeichnetes Objekt eine sehr große Menge sein.

 Dass man für jede Eigenschaft die Menge aller Objekte mit dieser Eigenschaft bilden kann, lässt sich rein logisch nicht begründen. Man wird die Existenz der Komprehension als Axiom fordern müssen:

Komprehensionsschema

Für jede Eigenschaft (a) existiert eine Menge A mit A = { a | (a) }.

 Die Bezeichnung als „Schema“ bedeutet: Ein Axiom pro Eigenschaft. Das Komprehensionsschema besteht aus unendlich vielen Axiomen. Für jede Eigenschaft (a) wird postuliert:

(+)  ∃A ∀a (a  ∈  A  (a)).

Wir nennen eine Aussage der Form (+) auch eine Instanz des Komprehensionsschemas.

 Unverzichtbar ist daneben:

Extensionalitätsaxiom

Zwei Mengen sind genau dann gleich, wenn sie dieselben Elemente besitzen.

 Eine bestechend einfache mengentheoretische Theorie ist nun:

Naive Mengenlehre

Es gilt das Extensionalitätsaxiom und das Komprehensionsschema.

 In der Naiven Mengenlehre lässt es sich gut leben, da wir Mengen völlig frei bilden können. Das nicht von der Hand zu weisende Problem dieser Theorie ist, dass sie widersprüchlich ist. Erahnen können wir die Probleme durch folgende Überlegung: Bei der Bildung von

A  =  { a | (a) }

müssen wir unser gesamtes Universum aus Objekten, zu denen alle Mengen einschließlich A gehören, durchforsten, und jedes Objekt, einschließlich der Menge A, auf die Eigenschaft  überprüfen. Logisch einfache Eigenschaften führen zu riesigen Mengen. So ergibt (a) = „a = a“ den Koloss aller Kolosse, nämlich

V  =  { a | a = a }.(Allklasse, mathematisches Universum)

Da das Universum V wieder ein Objekt ist und V sicherlich mit sich selbst identisch ist, gilt

V  ∈  V.

Das mathematische Universum enthält sich selbst als Element. Weiter gilt zum Beispiel { V }  ∈  V,  V × V  ∈  V,  VV  ∈  V.

 Ein anschauliches Beispiel für die Eigenschaft „a  ∈  a“ bildet die Menge aller Vorstellungen. Diese Menge ist selbst eine Vorstellung und damit in sich selbst als Element enthalten. Das Gleiche gilt für die Menge aller Idealisierungen, die Menge aller gewagten Konstruktionen und die Menge aller unendlichen Mengen.

 Sehr große Zusammenfassungen sind vielleicht etwas beunruhigend, aber noch nicht in offensichtlicher Weise widersprüchlich. Das ändert sich, wenn wir die Negation ins Spiel bringen. Wir betrachten hierzu die Eigenschaft

(a)  =  „a  ∉  a“.

Dabei ist „a  ∉  a“ hier und im Folgenden eine Kurzform für

„a ist eine Menge mit a  ∉  a“.

Die Eigenschaft „a  ∉  a“ trifft damit genau dann auf a zu, wenn a eine Menge ist, die sich nicht selbst als Element enthält. Für die meisten uns bekannten Mengen ist dies der Fall, etwa für { }, { 1, 2, 3 },  oder 2. Wir können „a  ∉  a“ als den mathematischen Normalfall ansehen und die Eigenschaft als Regularität von a bezeichnen. Die in der Mathematik traditionell verwendeten Mengen sind alle regulär. Unser gerade betrachtetes Universum V ist ein Beispiel für eine nichtreguläre Menge, da V  ∈  V. In jedem Fall gibt es sehr viele reguläre Mengen, und damit ist ihre Zusammenfassung ein sehr großes Objekt. Nach dem Komprehensionsschema können wir diese Zusammenfassung bilden. Wir setzen:

R  =  { a | a  ∉  a }.(Russell-Komprehension)

Die Menge R ist die Menge aller regulären Mengen: R besteht aus allen Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten. Es gilt { }, { 1, 2, 3 }, , …  ∈  R, aber V  ∉  R. Umgekehrt ist natürlich R  ∈  V, da R = R. Dies zeigt, dass R eine echte Teilmenge von V ist. Im Gegensatz zu V führt nun die definierende Eigenschaft „a  ∉  a“ von R in wenigen Zeilen zu einem Widerspruch:

Russell-Zermelo-Paradoxie

Sei R = { a | a  ∉  a }. Nach Definition der Komprehension gilt

(+)  ∀a (a  ∈  R    a  ∉  a).

Speziell gilt (+) für a = R. Damit erhalten wir den Widerspruch

R  ∈  R    R  ∉  R.

 Das Argument hat den Leser vielleicht an den Beweis des Satzes von Cantor erinnert, und in der Tat ist die Russell-Komprehension R eine gewisse Diagonalmenge D: Ist nämlich id : V  V die Identität auf dem Universum V, so liegt nach der Argumentation des Satzes von Cantor die Menge

D  =  { a  ∈  V | a  ∉  id(a) }  =  { a | a  ∉  a }

nicht im Wertebereich von id. Damit ist D  ∉  V, d. h. D ≠ D, Widerspruch. Die Menge D ist aber genau die Russell-Komprehension R. Der Satz von Cantor über den Mächtigkeitssprung zwischen A und (A) wird für den Fall A = V zu einem Widerspruch. (V) kann nicht mächtiger als V sein, da (V) ⊆ V.

ema22-AbbID4-4-2

Linkes Diagramm: R ist ein Element von R. Dies kann nicht gelten, da R nur Mengen enthält, die sich selbst nicht als Element enthalten.

Rechtes Diagramm: R ist kein Element von R. Dies kann nicht gelten, da R alle Mengen enthält, die sich selbst nicht als Element enthalten.

 Die Menge R enthält sich genau dann als Element, wenn sich R nicht als Element enthält. Diese fundamentale Entdeckung ist als Russell-Zermelo-Antinomie oder Russell-Zermelo-Paradoxon bekannt, benannt nach Ernst Zermelo und Bertrand Russell, die die Antinomie um 1900 unabhängig voneinander entdeckt haben. Zuvor war bereits Georg Cantor, der Begründer der Mengenlehre, auf das Phänomen der widersprüchlichen Zusammenfassungen von Objekten gestoßen, und man darf die intuitiv korrekte Cantorsche Mengenlehre nicht mit der naiven Mengenlehre verwechseln. Allerdings hat Cantor über diese Probleme nichts veröffentlicht, und das Gleiche gilt für Ernst Zermelo. Russell hat dagegen seine Paradoxie einer breiten philosophisch interessierten Öffentlichkeit vorgestellt und seine Überlegungen popularisiert. Am bekanntesten ist:

Russells Dorfbarbier

In einem Dorf lebt ein Barbier, der behauptet, genau denjenigen Dorfbewohnern die Haare zu schneiden, die sich die Haare nicht selbst schneiden. Die Aussage des Dorfbarbiers ist nicht haltbar. Denn er ist ein Dorfbewohner, und muss sich deswegen genau dann selbst die Haare schneiden, wenn er zu denen im Dorf gehört, die sich ihre Haare nicht selbst schneiden. Es gibt also, aus rein logischen Gründen, keinen derartigen Dorfbarbier.

 Analoges gilt für den Helfer, der genau denen hilft, die sich selbst nicht helfen, den Bäcker, der genau für die Brot bäckt, die sich ihr Brot nicht selbst backen und den Philosophen, der genau an denen zweifelt, die nicht an sich selbst zweifeln.

 Während sich der Dorfbarbier von Russell als Aufschneider, den man mit logischen Mitteln widerlegen kann, entlarven lässt, ist die Situation für die Mathematik ernst: Die Naive Mengenlehre ist widersprüchlich. Mit allem kann die Mathematik leben, nur nicht mit einem Widerspruch: Ex falso quodlibet − aus etwas Falschem folgt Beliebiges. Sobald ein einziger Widerspruch vorliegt, lässt sich alles beweisen. Es bleibt nur ein Ausweg: Die Axiome, aus denen sich der Widerspruch ergab, müssen revidiert werden.