Reelle Zahlen als Mengen
Ausgehend vom angeordneten Körper der rationalen Zahlen konstruieren wir nun einen vollständig angeordneten Körper. Wir wissen bereits, dass ein solcher Körper bis auf Isomorphie eindeutig bestimmt ist. Zur Durchführung dieses Schritts gibt es verschiedene Möglichkeiten. Wir betrachten zunächst einen Weg, der die Ordnung an die Spitze stellt:
Konstruktion durch Dedekindsche Schnitte
Unser Ziel lautet in anschaulicher Formulierung:
Schließe die Lücken in der Ordnung von ℚ durch Einfügen neuer Punkte.
Um dies zu erreichen, präzisieren wir, was wir unter einer Lücke verstehen wollen.
Definition (Schnitt, Lücke)
Ein Paar (L, R) nichtleerer Teilmengen L, R von ℚ heißt ein Dedekindscher Schnitt in ℚ mit linkem Teil L und rechtem Teil R, falls gilt :
(i) | (L, R) ist eine Zerlegung von ℚ, d. h. L ∩ R = ∅, L ∪ R = ℚ, |
(ii) | ∀q ∈ L, r ∈ R q < r, |
(iii) | sup(L) ∈ L, falls sup(L) in ℚ existiert. |
Ein Schnitt (L, R) heißt eine Lücke von ℚ, falls sup(L) in ℚ nicht existiert.
Im Fall der Existenz ist das Supremum von L in ℚ die eindeutige rationale Zahl r mit den Eigenschaften:
(a) | L ≤ r, d. h. für alle q ∈ L ist q ≤ r. |
(b) | Für alle r′ ∈ ℚ mit L ≤ r′ gilt r ≤ r′. |
Ein Schnitt in ℚ mit sup(L) ∈ ℚ. Der Schnitt ist keine Lücke von ℚ.
Ein Schnitt in ℚ, für den sup(L) in ℚ nicht existiert. Der Schnitt ist eine Lücke von ℚ.
Die einfachsten Beispiele für Schnitte sind durch die rationalen Zahlen gegeben. Für alle q ∈ ℚ setzen wir
Lq = { r ∈ ℚ | r ≤ q }, Rq = ℚ − Lq.
Dann ist (Lq, Rq) ein Schnitt mit sup(Lq) = q. Ein anderes Beispiel ist
L = { q ∈ ℚ | q ≤ 0 } ∪ { q ∈ ℚ+ | q2 < 2 }, R = ℚ − R.
Der Schnitt (L, R) ist eine Lücke in ℚ. Er markiert die in ℚ fehlende Quadratwurzel aus 2.
Um ℝ zu definieren, fügen wir für jede Lücke (L, R) einen Punkt zu ℚ hinzu. Anschließend liften wir die Ordnung von ℚ nach ℝ. Die neuen Punkte sind prinzipiell beliebige Objekte. Technisch ist es am einfachsten, die Schnitte selbst als Punkte zu verwenden. Wir definieren also:
Definition (Konstruktion von ℝ durch Dedekindsche Schnitte)
Wir setzen ℝ = { (L, R) | (L, R) ist ein Schnitt in ℚ }. Die Menge ℝ heißt die Dedekind-Vervollständigung von ℚ.
Indem wir für alle q ∈ ℚ den Schnitt (Lq, Rq) ∈ ℝ mit q identifizieren, erreichen wir ℚ ⊆ ℝ. Die Elemente von ℝ − ℚ (die irrationalen Zahlen), entsprechen dann genau den Lücken in ℚ.
Die Ordnung auf ℝ lässt sich elegant einführen:
Definition (Ordnung der reellen Zahlen)
Wir definieren für alle (L1, R1), (L2, R2) ∈ ℝ:
(L1, R1) < (L2, R2) falls L1 ⊂ L2.
Wie angestrebt gilt:
Satz (Vollständigkeit der reellen Ordnung)
Die Struktur (ℝ, <) ist eine vollständige lineare Ordnung.
Zum Beweis der Vollständigkeit betrachten wir eine nichtleere nach unten beschränkte Teilmenge X von ℝ. Wir setzen nun
L* = ⋂(L, R) ∈ X L, R* = ℚ − L*.
Dann ist (L*, R*) ein Schnitt und es gilt (L*, R*) = inf (X).
Etwas aufwendiger ist die Erweiterung der Addition und Multiplikation von ℚ nach ℝ. Anschaulich ist sie recht klar, da Schnitte beliebig genau durch rationale Zahlen approximiert werden können, auf denen die Addition und Multiplikation bereits erklärt ist.
Um die Definitionen zu vereinfachen, schreiben wir im Folgenden für einen Schnitt (L, R) kurz R. Dies ist eindeutig, da L = ℚ − R. Dass wir den rechten Teil bevorzugen, hat technische Gründe.
Definition (Addition und Multiplikation auf ℝ)
Wir definieren für alle R1, R2 ∈ ℝ:
R1 + R2 | = { q + r | q ∈ R1, r ∈ R2 }, | |
R1 · R2 | = { q r | q ∈ R1, r ∈ R2 }, | falls R1, R2 > 0, |
R1 · R2 | = 0, | falls R1 = 0 oder R2 = 0, |
R1 · R2 | = (sgn(R1) sgn(R2)) (|R1| · |R2|), | falls R1 < 0 oder R2 < 0. |
Dabei sind das Vorzeichen sgn(R) ∈ { −1, 0, 1 } und der Betrag |R| ∈ { R, −R } wie üblich definiert, wobei −R das additive Inverse von R bezeichnet und
0R = 0, 1R = R, (−1)R = −R
gesetzt wird. Man weist mit einiger Mühe nach, dass wir unser Ziel erreicht haben:
Satz (Reelle Zahlen als Dedekindsche Schnitte)
(ℝ, +, ·, 0, 1, <) ist ein vollständig angeordneter Körper.
Konstruktion durch Fundamentalfolgen
Wir stellen nun noch einen alternativen auf Cantor zurückgehenden Ansatz vor, bei dem anstelle der linearen Ordnung metrische Eigenschaften (Abstände von Punkten) und konvergente Folgen im Vordergrund stehen. In anschaulicher Formulierung lautet unser Ziel:
Behebe fehlende Grenzwerte in ℚ durch Einfügen neuer Punkte.
Zur Präzisierung eines „fehlenden Grenzwerts“ verwenden wir den Begriff der Cauchy-Folge, der eine Verdichtung der Glieder einer Folge beschreibt, ohne einen Grenzwert zu erwähnen.
Definition (Fundamentalfolge in ℚ)
Eine Folge (qn)n ∈ ℕ in ℚ heißt Fundamentalfolge oder Cauchy-Folge in ℚ, falls gilt:
∀ε ∈ ℚ+ ∃n0 ∀n, m ≥ n0 |qn − qm| < ε.
Eine Fundamentalfolge (qn)n ∈ ℕ in ℚ heißt konvergent in ℚ, falls ein q ∈ ℚ existiert mit
(+) ∀ε ∈ ℚ+ ∃n0 ∀n ≥ n0 |qn − q| < ε.
In diesem Fall heißt q Grenzwert oder Limes der Folge.
Ist eine Fundamentalfolge (qn)n ∈ ℕ in ℚ nicht konvergent in ℚ, so sagen wir, dass die Folge einen in ℚ fehlenden Grenzwert markiert oder dass der Grenzwert der Folge in ℚ fehlt.
Für jede rationale Zahl q ist die konstante Folge (q, q, q, …) eine gegen q konvergente Fundamentalfolge in ℚ. Ebenso konvergiert auch (q + 1/2n)n ∈ ℕ in ℚ gegen q. Ein Beispiel einer nicht konvergenten Fundamentalfolge in ℚ erhalten wir, wenn wir die Dezimalbruchentwicklung 1,414213… der Quadratwurzel aus 2 betrachten:
q0 = 1; q1 = 1,4; q2 = 1,41; …
Ein zweites Beispiel ist die Folge (pn)n ∈ ℕ in ℚ mit
p0 = 1, pn + 1 = 12 (pn + 2pn) für alle n.
Nach dem Heron-Verfahren konvergiert diese Folge in ℝ gegen die Quadratwurzel aus 2, während ihr Grenzwert in ℚ fehlt.
So wie wir die Lücken von ℚ durch Schnitte gefüllt haben, können wir die fehlenden Grenzwerte von ℚ mit Fundamentalfolgen ausbessern. Da aber, wie unsere Beispiele zeigen, verschiedene Fundamentalfolgen den gleichen Grenzwert markieren können, ist noch die Einführung einer Äquivalenzrelation nötig. Wir definieren hierzu:
Definition (Nullfolge, Äquivalenz von Fundamentalfolgen)
Wir setzen
F = { (qn)n ∈ ℕ | (qn)n ∈ ℕ ist eine Fundamentalfolge in ℚ }.
Eine Folge (rn)n ∈ ℕ ∈ F heißt eine Nullfolge, falls sie gegen 0 konvergiert. Für alle Folgen (qn)n ∈ ℕ, (pn)n ∈ ℕ ∈ F setzen wir
(qn)n ∈ ℕ ∼ (pn)n ∈ ℕ falls (qn − pn)n ∈ ℕ ist eine Nullfolge.
Die Relation ∼ ist eine Äquivalenz auf F. Durch Äquivalenzklassenbildung sind wir am Ziel:
Definition (Konstruktion von ℝ durch Fundamentalfolgen)
Wir setzen ℝ = F/∼.
Durch Identifikation einer Klasse [ (q, q, q, … ) ] mit q erreichen wir ℚ ⊆ ℝ. Das Liften der Arithmetik und Ordnung von ℚ nach ℝ ist einfacher als bei den Dedekindschen Schnitten:
Definition (Arithmetik und Ordnung der reellen Zahlen)
Wir definieren für alle [ (qn)n ∈ ℕ ], [ (pn)n ∈ ℕ ] ∈ ℝ:
[ (qn)n ∈ ℕ ] + [ (pn)n ∈ ℕ ] = [ (qn + pn)n ∈ ℕ ],
[ (qn)n ∈ ℕ ] · [ (pn)n ∈ ℕ ] = [ (qn pn)n ∈ ℕ ],
[ (qn)n ∈ ℕ ] < [ (pn)n ∈ ℕ ] falls ∃r ∈ ℚ ∃n0 ∀n ≥ n0 qn < r < pn.
Man zeigt, dass die Operationen wohldefiniert sind. Durch Nachweis der Axiome eines angeordneten Körpers erhalten wir:
Satz (Reelle Zahlen als Äquivalenzklassen von Fundamentalfolgen)
(ℝ, +, ·, 0, 1, <) ist ein vollständig angeordneter Körper.
Der Nachweis des Vollständigkeitsaxioms wird dem Ansatz gemäß über die metrische Vollständigkeit geführt: Wir zeigen, dass jede Cauchy-Folge in ℝ gegen ein Element von ℝ konvergiert. Da ℚ dicht in ℝ ist, gilt das Archimedische Axiom. Und die metrische Vollständigkeit zusammen mit dem Archimedischen Axiom ist äquivalent zur linearen Vollständigkeit der Existenz von Suprema (oder Infima) für nichtleere beschränkte Teilmengen.