Äquivalenzen und Folgerungen des Axioms

 Wir kürzen das Auswahlaxiom mit AC ab, für „axiom of choice“:

Auswahlaxiom von Ernst Zermelo AC

Ist A eine Menge, deren Elemente nichtleer und paarweise disjunkt sind, so existiert eine Menge B, die mit jedem Element von A genau ein Element gemeinsam hat.

Definition (Auswahlmenge)

Sind A und B wie im Axiom, so heißt B eine Auswahlmenge für A.

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Eine Auswahlmenge B für A enthält aus jedem Element von A genau ein Element. Wir dürfen stets B ⊆ ⋃ A annehmen, denn mit B ist auch B′ = B ∩ ⋃ A eine Auswahlmenge.

 Im Folgenden sei ZF das Axiomensystem ZFC ohne das Auswahlaxiom AC. Wir betrachten nun eine Reihe von Aussagen, die über ZF äquivalent zum Auswahlaxiom sind. Jede dieser Aussagen könnte also AC in der Axiomatik ersetzen, ohne dass die Theorie dadurch verändert werden würde. Wir beginnen mit:

Satz (Existenz von Repräsentantensystemen)

Die folgenden Aussagen sind über ZF äquivalent:

(a)

AC.

(b)

Jede Äquivalenzrelation besitzt ein vollständiges Repräsentantensystem.

Beweis

(a) impliziert (b):  Sei ≡  eine Äquivalenz auf A, und sei Z = A/≡ . Dann ist Z eine Menge von paarweise disjunkten nichtleeren Mengen. Nach AC gibt es eine Auswahlmenge B ⊆ ⋃ Z = A für Z. Dann ist B nach Konstruktion ein vollständiges Repräsentantensystem für ≡ .

(b) impliziert (a):  Sei Z eine Menge paarweise disjunkter nichtleerer Mengen, und sei A = ⋃ Z. Dann ist Z eine Zerlegung von A. Sei ≡  die von Z induzierte Äquivalenz auf A, sodass für alle a, b  ∈  A gilt

a ≡  b,  genau dann, wenn  „es gibt ein B  ∈  Z mit a, b  ∈  B“.

Dann ist A/≡  = { [ a ] | a  ∈  A } = Z. Nach Voraussetzung gibt es ein vollständiges Repräsentantensystem B für ≡ . Dann hat B mit jedem Element von Z genau ein Element gemeinsam, sodass B eine Auswahlmenge für Z ist.

 Ist A eine Menge nichtleerer, aber nicht notwendig paarweiser disjunkter Mengen, so können wir anschaulich immer noch aus jedem Element von A ein Element auswählen. Bei der Formulierung des Axioms können wir aber auf die Voraussetzung der Disjunktheit nicht verzichten, wenn wir „genau ein“ beibehalten wollen (Übung). Unsere Anschauung lässt sich aber formalisieren, wenn wir mit Folgen statt mit Mengen arbeiten. Zur Erinnerung:

Definition (Folgennotation für Funktionen)

Sei I eine Menge, und sei f : I  A eine Funktion. Dann notieren wir f auch in der Form (ai)i  ∈  I mit f (i) = ai. Wir nennen (ai)i  ∈  I auch eine I-Folge oder eine Familie mit der Indexmenge I.

 Folgen sind Funktionen und Funktionen sind Folgen. Zwischen den Schreibweisen f (i) und ai können wir frei hin und her wechseln und je nach Kontext die suggestivere Form benutzen. Es gilt

f  =  { (i, f (i)) | i  ∈  I }  =  { (i, ai) | i  ∈  I }  =  (ai)i  ∈  I.

Wir definieren nun:

Definition (allgemeines kartesisches Produkt)

Sei I eine Menge, und sei (Ai)i  ∈  I eine I-Folge. Dann setzen wir

i  ∈  I Ai  =  { (ai)i  ∈  I | ai  ∈  Ai für alle i  ∈  I }.

Jedes Element von ⨉i  ∈  I Ai heißt eine Auswahlfunktion oder Auswahlfolge für (Ai)i  ∈  I.

 Eine Auswahlfunktion wählt für jeden Index i ein Element aus der diesem Index zugeordneten Menge Ai. Der Beweis der folgenden Äquivalenz ist im Wesentlichen eine technische Umformulierung der Definitionen.

Satz (Existenz von Auswahlfunktionen)

Die folgenden Aussagen sind über ZF äquivalent:

(a)

AC.

(b)

Ist (Ai)i  ∈  I eine Folge nichtleerer Mengen, so ist ⨉i  ∈  I Ai ≠ ∅.

Beweis

(a) impliziert (b):  Sei (Ai)i  ∈  I eine Folge von nichtleeren Mengen, und sei A = ⋃i  ∈  I Ai. Wir setzen

M  =  { { i } × Ai | i  ∈  I }  =  { { (i, a) | a  ∈  Ai } | i  ∈  I }  ⊆  (I × A).

Dann ist M eine Menge paarweise disjunkter nichtleerer Mengen. Nach AC existiert eine Auswahlmenge B ⊆ ⋃ M für M. Dann ist B eine Auswahlfunktion für (Ai)i  ∈  I.

(b) impliziert (a):  Sei A eine Menge nichtleerer paarweise disjunkter Mengen. Dann ist die A-Folge (a)a  ∈  A = { (a, a) | a  ∈  A } = idA eine Folge nichtleerer Mengen. Also existiert eine Auswahlfunktion (ba)a  ∈  A der Folge. Dann ist B = { ba | a  ∈  A } eine Auswahlmenge für A.

 Wir können also das Auswahlaxiom auch so formulieren:

Jede Folge nichtleerer Mengen besitzt eine Auswahlfunktion.

Dies Version verwendet den Funktionsbegriff und im Vergleich ist die ursprüngliche Version kürzer und einfacher. Im mathematischen Alltag ist die funktionale Form dagegen sehr nützlich. Sie erlaubt:

Definition von Funktionen durch „ein …“

Sei A eine Menge. Weiter sei (a, b) eine Eigenschaft derart, dass für alle a  ∈  A ein b existiert mit (a, b). Dann gibt es eine Funktion f mit Definitionsbereich A derart, dass (a, f (a)) für alle a  ∈  A gilt. Die Definition einer derartigen Funktion können wir suggestiv so angeben:

(+)  f (a)  =  „ein b mit (a, b)“  für alle a  ∈  A.

 Die Situation ist ein Paradebeispiel für die Freiheit, die die Mengenlehre der Mathematik zur Verfügung stellt. Aus axiomatischer Sicht ist neben dem Auswahlaxiom auch noch das Ersetzungsaxiom beteiligt. Letzteres muss nicht bemüht werden, wenn die gewählten b aus einer bereits bekannten Grundmenge B entnommen werden können, sodass für alle a  ∈  A ein b  ∈  B existiert mit (a, b).

 Es ist guter Stil, die Form „ein b mit …“ nur dann zu verwenden, wenn auf einen Einsatz das Auswahlaxioms mutmaßlich oder nachweislich nicht verzichtet werden kann. Können wir die Funktionswerte eindeutig durch eine Eigenschaft ′(a, b) spezifizieren, so schreiben wir

(++)  f (a)  =  „das eindeutige b mit ′(a, b)“  für alle a  ∈  A.

Es gilt dann

f  =  { (a, b) | a  ∈  A und ′(a, b) },

sodass die Existenz von f bereits durch die Axiome von ZF garantiert wird. Ist jedes b Element einer gewissen Menge B, so gilt f ⊆ A × B.

 Folgende Äquivalenz zum Auswahlaxiom ist ein Paradebeispiel für die Definition einer Funktion durch „ein …“:

Satz (Verknüpfung zur Identität)

Die folgenden Aussagen sind über ZF äquivalent:

(a)

AC.

(b)

Ist g : B  A surjektiv, so gibt es ein injektives f : A  B mit g ∘ f = idA.

Beweis

(a) impliziert (b):

Sei g : B  A surjektiv. Wir definieren f : A  B durch

f (a)  =  „ein b  ∈  B mit g(b) = a“  für alle a  ∈  A.

Für alle a  ∈  A ist also f (a) ein Urbild von a unter g. Nach Definition gilt

g(f (a))  =  a  für alle a  ∈  A.

Folglich ist g ∘ f = idA.

(b) impliziert (a):

Sei A eine Menge paarweise disjunkter nichtleerer Mengen, und sei B = ⋃ A. Wir definieren g : B  A durch

g(b)  =  „das eindeutige a  ∈  A mit b  ∈  a“  für alle b  ∈  B.

Dann ist g : B  A surjektiv und es gilt b  ∈  g(b) für alle b  ∈  B. Nach Voraussetzung gibt es ein injektives f : A  B mit g ∘ f = idA. Dann gilt f (a)  ∈  g(f (a)) = a für alle a  ∈  A. Somit ist das Bild f [ A ] von f eine Auswahlmenge für A.

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Zum Beweis des Satzes : Aus einer Surjektion g : B  A erhalten wir eine Injektion f : A  B mit g ∘ f = idA durch Auswahl je eines Urbilds

 Eine natürliche Frage ist, ob die Äquivalenz zum Auswahlaxiom erhalten bleibt, wenn wir in (b) auf die Inversenbedingung g ∘ f = idA verzichten. Wir formulieren hierzu:

Partitionsprinzip

Ist g : B  A surjektiv, so existiert ein injektives f : A  B.

 Definieren wir |A| ≤* |B|, falls A = ∅ oder ein surjektives g : B  A existiert, so besagt das Partitionsprinzip, dass für alle Mengen A, B gilt:

|A| ≤* |B|  impliziert  |A| ≤ |B|.

Die umgekehrte Implikation gilt in ZF, sodass das Partitionsprinzip besagt, dass die Mächtigkeitsrelationen ≤ und ≤* zusammenfallen.

 Das Partitionsprinzip wurde in Spezialfällen bereits von Cantor verwendet und allgemein 1902 von Beppo Levi formuliert. Obiger Satz zeigt, dass es aus dem Auswahlaxiom folgt. Wie sieht es mit der Umkehrung aus? Überraschenderweise ist die Frage

Impliziert das Partitionsprinzip in ZF das Auswahlaxiom?

noch offen. Man weiß, dass das Partitionsprinzip nicht in ZF beweisbar ist (es sei denn ZF ist widerspruchsvoll) und das das Prinzip gewisse schwache Formen von AC impliziert.

 Die Involvierung des Auswahlaxioms erklärt, warum in der Definition des Mächtigkeitsvergleichs |A| ≤ |B| die Existenz einer Injektion von A nach B gegenüber der einer Surjektion von B nach A (für A ≠ ∅) bevorzugt wird. Die Definition mit Injektionen ist aus axiomatischer Sicht einfacher.

 Die Untersuchung von ZFC hat eine lange Liste von Äquivalenzen zum Auswahlaxiom ans Licht gebracht. Darin finden sich neben mengentheoretischen Aussagen auch viele Aussagen aus anderen mathematischen Disziplinen. Der folgende Satz, den wir ohne Beweis angeben, versammelt einige typische Beispiele.

Satz (weitere Äquivalenzen zum Auswahlaxiom)

Die folgenden Aussagen sind über ZF äquivalent:

(a)

AC.

(b)

Für alle A, B gilt |A| ≤ |B| oder |B| ≤ |A|.(Vergleichbarkeitssatz)

(c)

Jede Menge lässt sich wohlordnen.(Wohlordnungssatz)

(d)

Für alle unendlichen A gilt |A × A| = |A|.(Multiplikationssatz)

(e)

Jeder Vektorraum besitzt eine Basis.(Basisexistenzsatz)

(f)

Das Produkt kompakter Räume ist kompakt.(Satz von Tikhonov)

 Daneben gibt es zahlreiche Aussagen, zu deren Beweis AC eingesetzt wird, die aber zu schwach sind, um AC zu implizieren. Beispiele hierzu sind:

Satz (Folgerungen aus dem Auswahlaxiom)

Folgende mit AC beweisbare Aussagen sind zum Auswahlaxiom nicht äquivalent, lassen sich aber auch nicht in ZF beweisen (es sei denn, ZF ist widerspruchsvoll):

(a)

Die abzählbare Vereinigung abzählbarer Mengen ist abzählbar.

(b)

Jede unendliche Menge ist Dedekind-unendlich.

(c)

Jede Menge lässt sich linear ordnen.

(d)

Für alle unendlichen A gilt |2A| = |A|, wobei

2A  =  (A × { 0 }) ∪ (A × { 1 }).

(e)

Der Satz von Hahn-Banach der Funktionalanalysis.

 Der Leser führe sich die Beweise der beiden ersten Aussagen vor Augen: Um eine abzählbare Vereinigung abzählbar unendlicher Mengen mit Hilfe der Cantorschen Paarungsfunktion abzählen zu können, muss für jede Menge eine Aufzählung gewählt werden. Sind derartige Aufzählungen gegeben, ist der Einsatz des Auswahlaxiom nicht nötig. Und um zu zeigen, dass sich die Menge der natürlichen Zahlen in eine unendliche Menge einbetten lässt, muss unendlich oft aus der Menge ein Element gewählt werden, sodass sich eine injektive Folge in der Menge ergibt.

 Manchmal ist der Einsatz von AC vermeidbar. Das Paradebeispiel ist:

Satz (Auswahlmengen für endliche Mengen)

In ZF gilt: Ist A eine endliche Menge paarweise disjunkter nichtleerer Mengen, so existiert eine Auswahlmenge für A.

 Der Beweis wird durch Induktion nach der Anzahl |A| der Elemente von A geführt (Übung). Der Satz zeigt, dass das Auswahlaxiom erst im Unendlichen von Interesse ist. Speziell folgt aus den anderen Axiomen, dass es für jede nichtleere Menge A eine Menge B der Form B = { a } mit a  ∈  A gibt.

 Die Endlichkeit „innerhalb von A“ erfordert dagegen das Auswahlaxiom. Auch wenn jedes Element eines Mengensystems A wie in AC nur zwei Elemente besitzt, muss für die Existenz einer Auswahlmenge für A im Allgemeinen das Auswahlaxiom eingesetzt werden.

 Sind die Elemente eines Systems A wie im Auswahlaxiom Teilmengen von , so brauchen wir AC nicht, um eine Auswahlmenge B zu erhalten. Wir definieren f : A  ⋃ A durch

f (a)  =  „das kleinste Element von a“  für alle a  ∈  A.

Dann ist B = f [ A ] eine Auswahlmenge für A. Allgemein gilt dies, wenn jede nichtleere Teilmenge von ⋃ A ein in einem bestimmten Sinne ausgezeichnetes Element besitzt.