Ein Abschluss-Prozess der Länge ω1
Sei 𝒪 das System der offenen Mengen auf ℝ.
Frage
Was ist das ⊆-kleinste 𝒜 ⊆ ℘(ℝ) mit den Eigenschaften:
(i) | 𝒪 ⊆ 𝒜 |
(ii) | 𝒜 ist eine σ-Algebra auf ℝ? |
Antwort A
𝒜 = ⋂ { 𝒜′ ⊆ ℘(ℝ) | 𝒜′ erfüllt (i) und (ii) }
Antwort B
𝒜 = | „der Abschluss von 𝒪 unter abzählbaren Vereinigungen und |
Komplementbildung“ |
Für die zweite Antwort definieren wir rekursiv zwei ω1-Folgen
〈 Σα | α < ω1 〉 und 〈 Πα | α < ω1 〉.
Solche transfiniten Rekursionen verlaufen analog zu Rekursionen über den natürlichen Zahlen: Zur Definition von Σα dürfen wir auf alle Σβ zurückgreifen mit β < α. Ein allgemeiner Satz von John von Neumann besagt, dass solche rekursiv definierten Objekte eindeutig existieren.
Rekursionsanfang
Σ0 = 𝒪, Π0 = { ℝ − A | A ∈ Σ0 } = { A ⊆ ℝ | A ist abgeschlossen }
Rekursionsschritt
Sei α < ω1, und seien Σβ, Πβ konstruiert für alle β < α. Wir setzen
Σα = { ⋃ ℬ | ℬ ist eine abzählbare Teilmenge von ⋃β < α (Σβ ∪ Πβ) }
Πα = { ℝ − A | A ∈ Σα }
Dann ist
𝒜 = ⋃α < ω1 Σα = ⋃α < ω1 Πα
die gesuchte σ-Algebra. Es ist leicht nachzuweisen:
(+) Σβ ⊆ Σα, Σβ ⊆ Πα, Πβ ⊆ Σα, Πβ ⊆ Πα für alle β < α < ω1
Wir erhalten also eine Hierarchie von Mengensystemen, die 𝒜 ausschöpfen.
Bemerkungen zur Konstruktion
Die Mengen Σα ∪ Πα für α < ω1 sind unsere Approximationen an das gesuchte 𝒜. Die Definition von Σ0 und Π0 ist klar. Nun schließen wir die Menge Σ0 ∪ Π0 unter abzählbaren Vereinigungen ab. Danach bilden wir Komplemente. Dadurch gibt es unter Umständen neue abzählbare Vereinigungen. Also schließen wir unsere Approximation wieder unter diesen Vereinigungen ab und bilden Komplemente usw. Aber auch nach ω-vielen Schritten sind wir nicht fertig: Bilden wir
𝒞 = ⋃n ∈ ω (Σn ∪ Πn),
so existieren (wie sich mit einem Diagonalargument nachweisen lässt) Mengen An ∈ Σn ∪ Πn für n ∈ ω mit
⋃n ∈ ω An ∉ 𝒞.
Also müssen wir erneut unter abzählbaren Vereinigungen abschließen usw. usf. Die Präzisierung von „usw. usf.“ sind hier die abzählbaren Ordinalzahlen.
Warum sind wir nach ω1-vielen Schritten fertig? Um dies einzusehen, betrachten wir eine abzählbare Menge
ℬ ⊆ 𝒜 = ⋃α < ω1 Σα.
Jeder Menge B in ℬ können wir ihren Konstruktionsindex zuordnen, also das kleinste α < ω1 mit B ∈ Σα ∪ Πα. Wir erhalten dadurch abzählbar viele Indizes, und das Supremum σ dieser Indizes ist kleiner als ω1. Denn ω1 ist nicht in abzählbar vielen Schritten von unten erreichbar, da die Vereinigung von abzählbar vielen abzählbaren Ordinalzahlen abzählbar ist. Dann wird aber ⋃ ℬ spätestens an der Stelle σ < ω1 konstruiert. Also ist ⋃ ℬ ∈ 𝒜.
Das Mengensystem 𝒜 heißt die Borel-σ-Algebra auf ℝ. Es lässt zeigen, dass die Inklusionen der Approximationen in (+) stets echt sind. Wir müssen also wirklich ω1-viele Schritte machen, um zu 𝒜 zu gelangen. Die Approximationen Σα und Πα bilden die Borel-Hierarchie.
Wie im ersten Beispiel haben wir gegenüber der Schnittdefinition Vorteile:
(1) | Ein besseres Verständnis von 𝒜. |
(2) | Ein Maß für die Komplexität einer Menge in 𝒜: Die Stelle, an der die Menge zum ersten Mal in einer Approximation erscheint (Konstruktionsindex). |
(3) | Die Möglichkeit, Aussagen über 𝒜 durch Induktion (der Länge ω1) zu zeigen, und Rekursionen entlang der Borel-Hierarchie zu führen. |
Wir diskutieren ein Beispiel für (3) etwas ausführlicher.