Große Kardinalzahlen

 Jede Borel-Menge ist also determiniert. Andererseits gibt es nicht determinierte Teilmengen der reellen Zahlen. Offen bleibt immer noch:

Frage

Welche Teilmengen von  sind determiniert?

 Eines der besten neueren Ergebnisse der Mengenlehre lautet vereinfacht: Es gibt eine Erweiterung der Basisaxiome ZFC um sogenannte große Kardinalzahlaxiome, mit deren Hilfe − und nicht ohne diese − man beweisen kann, dass jede projektive Menge determiniert, und also insbesondere Lebesgue-messbar ist. Das System der projektiven Mengen 𝒫 ⊆ () entsteht wieder durch einen Abschluss-Prozess: Wir schließen die Borel-σ-Algebra 𝒜 auf  ab unter Bildern von stetigen Funktionen f :    und Komplementbildung. Ist also A  ∈  𝒫 und f stetig, so ist f [ A ]  ∈  𝒫 und  − A  ∈  𝒫. Dieser Abschluss-Prozess hat Länge ω und liefert die sogenannte projektive Hierarchie. Ist es nicht überraschend, dass die Lebesgue-Messbarkeit der Elemente einer so natürlichen Klasse nur mit starken neuen Axiomen gezeigt werden kann?

 Die Lebesgue-Messbarkeit der projektiven Mengen ist schon recht erdnah. Und sobald es ein derartiges Resultat mit einer direkt greifbaren Implikation gibt, etwa „große Kardinalzahlen implizieren, dass jede gerade Zahl größer als zwei die Summe zweier Primzahlen ist“, werden Sie so häufig über Mengenlehre lesen wie in den 60er Jahren, als Paul Cohen das Forcing erfand.

Neue zahlentheoretische Sätze

Warum darf man überhaupt hoffen, dass eine einfache zahlentheoretische Aussage wie die Goldbachsche Vermutung mit (und nur mit) großen Kardinalzahlaxiomen bewiesen werden kann? Weil man weiß, dass durch diese Axiome tatsächlich neue zahlentheoretische Aussagen von der logischen Komplexität (Anzahl der Quantorenwechsel) der Goldbachchen Vermutung beweisbar werden. Es handelt sich hier um sogenannte Π1-Aussagen über die natürlichen Zahlen: Ein oder mehrere Allquantoren, gefolgt von einer Aussage, in der alle Quantoren beschränkt sind. Von dieser Form ist die Goldbachsche Vermutung:

∀x (x > 2 ∧ x gerade    ∃p, q < x (p, q sind prim ∧ p + q = x))

(Die Formeln „x gerade“, „p ist prim“ usw. lassen sich mit beschränkten Quantoren schreiben, welche nur noch +, ·, 0, 1 enthalten.)

Bisher gibt es jedoch noch keine neue Π1-Konsequenz der großen Kardinalzahlaxiome mit einem unmittelbar greifbaren zahlentheoretischen Gehalt. Ein Resultat von der Qualität der projektiven Determiniertheit steht noch aus.

 Hier ist nicht der Ort, die großen Kardinalzahlaxiome im Detail vorzustellen (wir geben ein Beispiel in den Ergänzungen). Denken Sie an Aussagen der Form „ω existiert“ oder „ω1 existiert“, die die Länge der Perlenkette der Ordinalzahlen betreffen. Viele solche Aussagen sind aus den Basisaxiomen beweisbar. Für andere brauchen wir neue Axiome. Dass es derartige Prinzipien überhaupt gibt, kann einen in Erstaunen versetzen. Ihre Existenz ist vergleichbar mit der Existenz ferner Galaxien. Es müsste sie nicht geben. Sie sind eine Entdeckung der Fernrohre und zeigen uns den Reichtum des Universums.