1. Einführung

 Im Umfeld von Eindeutigkeitsfragen der Theorie der Fourier-Reihen schuf Georg Cantor den Begriff der „linearen Punktmannigfaltigkeit“, der „Teilmenge von “. Er untersuchte die Operation der Punktableitung, die von einer Menge P reeller Zahlen zur Menge P′ ihrer Häufungspunkte führt, und um dieser Operation Herr zu werden, entwickelte er die Ordinalzahlen.

 Die neue transfinite Mengenlehre wurde im deutschen Sprachraum schnell populär, die Wirkung der sechsteiligen Artikelfolge „Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten“ ist schwer zu überschätzen. Die durch Mittag-Leffler angeregten französischen Übersetzungen dieser Arbeiten in den Acta Mathematica brachten weiter denjenigen Zweig der mathematischen Moderne hervor, der heute mit den Namen Borel, Baire und Lebesgue verbunden ist. Um 1920 herum hatten die transfiniten Methoden international den Stand des mathematischen Grundwissens erreicht, sie tauchen in den Glanzstücken der Lehrbuchliteratur ebenso auf wie in den wichtigsten Forschungsartikeln der Zeit. Wir nennen hier nur Hausdorffs „Grundzüge der Mengenlehre“ von 1914 und Stefan Banachs Abhandlung über bewegungsinvariante Inhalte von 1923; letztere enthält einen Beweis einer Version des Satzes von Hahn-Banach durch transfinite Induktion.

 Warum dann die mathematische Popularität der transfiniten Zahlen abriss, wäre Gegenstand einer eigenen Abhandlung. Zwei Gründe kann man sicher anführen:

 Zum einen ging die mathematische Grundlagenforschung nach Gödel ihre eigenen Wege. Die Mengenlehre wurde, abgesehen von der Sprache, die sie der ganzen Mathematik zur Verfügung stellte, Teil der mathematischen Logik. Lediglich die deskriptive Mengenlehre, vorangetrieben vor allem durch Hausdorff und die russische Schule um Lusin, konnte zunächst noch den Kontakt zur Analysis und Maßtheorie halten, der der Mengenlehre ja in die Wiege gelegt zu sein schien. Nach anfänglichen Erfolgen stieß man aber auch hier, wie im Fall der Kontinuumshypothese, auf „zu schwierige Fragen“ − Fragen, von denen man heute weiß, dass sie in der klassischen Mathematik keine Antwort haben, etwa die Frage, ob alle projektiven Mengen Lebesgue-messbar sind oder nicht. Die Analyse der Problematik blieb Spezialisten innerhalb der Logik vorbehalten. Die Analysis und Maßtheorie umschifften die Probleme der Grundstruktur  so weit wie möglich.

 Zum anderen gelang es oftmals, traditionelle transfinite Argumente durch Anwendung eines Maximalprinzips zu eliminieren, am bekanntesten ist hier das Zornsche Lemma. Der Aufwand, sich die Begriffsbildungen der transfiniten Zahlen anzueignen und sie zu lehren, schien entbehrlich.

 Wir wollen hier einige illustrierende und allgemein interessante Beispiele für die Einsatzmöglichkeiten der transfiniten Zahlen geben. Sie sollen auch die These unterstützen, dass die Ansiedlung des Transfiniten außerhalb des mathematischen Grundwissens einen Verlust darstellt.

Notation

Die natürlichen Zahlen  enthalten die Null. Wir verwenden konsequent „⊆“ für die Inklusion und „⊂“ für die echte Inklusion von Mengen, in Analogie zu „≤“ und „<“ für partielle Ordnungen. Eine Funktion wird als eine (rechtseindeutige) Menge von geordneten Paaren aufgefasst, und somit bedeutet f ⊆ g für Funktionen f und g einfach, dass g eine Fortsetzung von f ist. Für eine Funktion f bezeichnen wir den Definitionsbereich mit dom(f) und den Wertebereich mit rng(f). Es gilt also

dom(f)  =  { x | es gibt ein y mit (x, y)  ∈  f }

rng(f)  =  { f (x) | x  ∈  dom(f) }

Wir schreiben f : A  B, falls f eine Funktion mit dom(f) = A und rng(f) ⊆ B ist.

 Wir argumentieren in der üblichen Mathematik. Es geht in diesem Artikel nicht darum, auf Feinheiten der mengentheoretischen Axiomatik einzugehen, etwa auf die Rolle des Auswahlaxioms. Für Leser mit Interesse an solchen Fragen geben wir am Ende des dritten Abschnitts aber einen knappen Überblick, wo starke Axiome der Mengenlehre in der Theorie der Ordinalzahlen wesentlich verwendet werden.