8. Existenz und Eindeutigkeit von Maßen

 Wir geben einen (anscheinend neuen) Beweis des Existenz- und Eindeutigkeitssatzes der Maßtheorie, der das gesuchte Maß rekursiv entlang der Ring-Hierarchie konstruiert. Unser Ziel ist eine kompakte Darstellung, die die Struktur der Argumentation klar herausstellt. Wir beschränken uns deswegen auf endliche (Prä-)Maße auf Algebren als Ausgangspunkt. Die Ring-Hierarchie einer Algebra besteht ausschließlich aus Algebren, und das Rechnen mit Differenzen wird einfacher, da „∞ − ∞“ nicht auftaucht. Am Ende des Abschnitts gehen wir auf den allgemeinen Fall ein und diskutieren eine alternative Sicht der Grundlagen der Maßtheorie, die durch unsere Überlegungen nahegelegt wird. Eine ausführliche Darstellung der Theorie findet der Leser in [ Deiser 2007b ].

 An den Zwischenstufen der Ring-Hierarchie tauchen Verbände in der Form 𝒱α + 1 = (α)σ auf. Wir entwickeln deswegen die folgenden Begriffe der Inhaltstheorie allgemein für Verbände und nicht nur für die spezielleren Ringe. Im folgenden bezeichnet 𝒱 immer einen Verband.

 Wir schreiben ⋃n An statt ⋃n  ∈   An, supn μ(An) statt supn  ∈   μ(An), usw. Weiter bedeutet An A, dass A0 ⊆ … ⊆ An ⊆ … und A = ⋃n An. Analog steht An A für ⊆-absteigende Folgen mit ⋂n An = A. Wie schon oben schreiben wir + und Σ statt ∪ bzw. ⋃ für paarweise disjunkte Mengenvereinigungen.

 Eine Funktion μ : 𝒱  [ 0, ∞ [ heißt:

(i)

additiv, falls μ(A + B)  =  μ(A) + μ(B)  für alle A, B  ∈  𝒱

(ii)

σ-additiv, falls μn An)  =  Σn μ(An)  für alle An  ∈  𝒱 mit Σn An  ∈  𝒱

(iii)

modular,  falls μ(A ∪ B) + μ(A ∩ B)  =  μ(A) + μ(B) für alle A, B  ∈  𝒱

(iv)

-stetig, falls μ(A) = supn μ(An) für alle An A in 𝒱

(v)

∅-stetig, falls infn μ(An) = 0 für alle An ∅ in 𝒱

(vi)

monoton, falls μ(A) ≤ μ(B) für alle A, B  ∈  𝒱 mit A ⊆ B

 Wir definieren:

Definition (Inhalt auf einem Verband)

Eine Funktion μ : 𝒱  [ 0, ∞ [ heißt ein (endlicher) Inhalt auf einem Verband 𝒱, falls gilt: μ(∅) = 0, μ ist monoton, μ ist modular.

 Auffällig ist hier die Forderung der Modularität statt der gewohnten Additivität. Ist 𝒱 ein Ring, so zeigt man leicht, dass die Additivität äquivalent zur Modularität ist. Damit stimmt obige Inhaltsdefinition für Ringe mit der üblichen überein. Für Verbände ist die Additivität aber im Allgemeinen zu schwach:

Beispiel

Sei 𝒱 = { ∅, { 1 }, { 0, 1 }, { 1, 2 }, { 0, 1, 2 } }. Dann ist 𝒱 ein Verband. Jede Funktion μ : 𝒱  [ 0, ∞ ] mit μ(∅) = 0 ist additiv auf 𝒱, da sich in diesem Verband gar keine nichttrivialen disjunkten Mengenvereinigungen bilden lassen. Sicherlich wollen wir aber nicht jede monotone Funktion μ auf 𝒱 mit μ(∅) = 0 einen Inhalt nennen (denn wir wollen insbesondere, dass sich Inhalte von 𝒱 nach ring(𝒱) fortsetzen lassen).

 Der folgende allgemeine (leider wenig bekannte) Satz von Hausdorff zeigt, dass der modulare Inhaltsbegriff der richtige ist. Der Leser führe sich vorab noch einmal die Darstellung (#) in Abschnitt 7 von ring(𝒱) vor Augen.

Satz (Fortsetzungssatz von 𝒱 nach ring(𝒱))

Sei μ : 𝒱  [ 0, ∞ [ ein Inhalt. Dann existiert eine eindeutige Fortsetzung von μ zu einem Inhalt auf ring(𝒱), den wir ebenfalls mit μ bezeichnen. Dieser Inhalt ist gegeben durch:

μ(Σi ≤ n Ai − Bi)  =  Σi ≤ n μ(Ai) − μ(Bi)  für alle Ai, Bi  ∈  𝒱 mit Bi ⊆ Ai.

 Die Definition von μ mag offensichtlich erscheinen, die Wohldefiniertheit und die Additivität von μ auf ring(𝒱) ist jedoch eine nichttriviale Angelegenheit. Für Beweise siehe [ Hausdorff 1914, Anhang ], [ Pettis 1951 ], [ Kisyński 1968 ], [ Lipecki 1971 ], [ Deiser 2007b ], wobei die beiden letztgenannten die kürzesten Beweise sind und jeweils auf etwa einer Seite ihr Ziel erreichen. Der elegante Beweis von Lipecki verwendet Funktionenräume, der Beweis des Autors bleibt der Mengenalgebra treu (und ist verwandt mit der Argumentation bei Pettis).

 Ein Inhalt μ auf einem Ring heißt ein (Prä-)Maß, falls μ σ-additiv ist. Gleichwertig ist, wie man leicht zeigt, die Forderung der -Stetigkeit.

 Eine einfache allgemeine Maßdefinition für Verbände existiert dagegen nicht, obiger Übergang von 𝒱 nach ring(𝒱) zerstört im Allgemeinen die σ-Additivität und die -Stetigkeit von μ. In der Ring-Hierarchie tauchen aber nur spezielle Verbände auf, und deswegen können wir hier dieses Problem umgehen. Wir zeigen in zwei Schritten, dass wir ein endliches Maß auf einer Algebra zu einem Maß auf der Algebra ring(𝒜σ) fortsetzen können.

Satz (Supremums-Fortsetzung von 𝒜 nach 𝒜σ)

Sei μ ein Maß auf einer Algebra 𝒜. Wir setzen μ nach 𝒱 = 𝒜σ fort durch

μ(A)  =  supn μ(An)  für An A mit An  ∈  𝒜.

Dann ist μ ein wohldefinierter -stetiger Inhalt auf 𝒱 mit der Eigenschaft:

(+) Für alle A, B  ∈  𝒱 mit B ⊆ A und alle ε > 0 gibt es ein C  ∈  𝒱 mit
C ⊇ A − B und μ(C) < μ(A) − μ(B) + ε.
Beweis

Für die Wohldefiniertheit seien An, Bn  ∈  𝒜 mit An A, Bn A. Dann ist

Cn, m := An ∩ Bm  ∈  𝒜 für alle n, m. Dann gilt:

supn μ(An) =  supn supm μ(Cn, m)
=  supm supn μ(Cn, m)
=  supm μ(Bm)

Für alle An, Bn  ∈  𝒜 mit An A und Bn B gilt:

μ(A ∪ B)  +  μ(A ∩ B) =  μ(⋃n An ∪ Bn)  +  μ(⋃n An ∩ Bn)
=  supn μ(An ∪ Bn) + μ(An ∩ Bn)
=  supn μ(An) + μ(Bn)
=  μ(A) + μ(B)

Also ist μ modular. Ist A ⊆ B, so gilt B′nB mit B′n = Bn ∪ An. Dann ist

aber offenbar μ(A) ≤ μ(B), und damit ist μ ein Inhalt auf 𝒱.

Eine Standarddiagonalisierung zeigt die -Stetigkeit von μ auf 𝒱: Seien

An A in 𝒱 und Bn, m An mit Bn, m  ∈  𝒜 für alle n, m. Ohne Einschränkung ist Bn, m ⊆ Bn′, m für alle m und alle n ≤ n′. Dann gilt Bn, n A und somit ist

μ(A)  =  supn μ(Bn, n)  =  supn supm μ(Bn, m)  =  supn μ(An).

Zum Beweis von (+) seien B ⊆ A in 𝒱. Seien An, Bn  ∈  𝒜 mit An A, Bn B. Wir setzen Cn = A − Bn = ⋃k (Ak − Bn)  ∈  𝒱. Dann gilt Cn A − B, und μ(Cn) = μ(A) − μ(Bn) für alle n wegen der -Stetigkeit von μ. Dann ist aber

infn μ(Cn)  =  μ(A) − supn μ(Bn)  =  μ(A) − μ(B).

 Weiter zeigen wir:

Satz (Fortsetzungssatz von 𝒱 nach ring(𝒱), Ergänzung)

Sei 𝒜 eine Algebra, und sei μ ein -stetiger Inhalt auf 𝒱 = 𝒜σ mit (+).

Dann ist die Hausdorff-Fortsetzung von μ nach ring(𝒱) ein Maß auf ring(𝒱).

Beweis

μ ist ein Inhalt auf ring(𝒱). Wir zeigen die σ-Additivität von μ. Hierzu

genügt es wegen der Darstellung (#) von ring(𝒱) zu zeigen:

Für alle Bn ⊆ An, B ⊆ A in 𝒱 mit Σn An − Bn = A − B gilt:

μ(A − B)  =  Σn μ(An − Bn)

Wegen Monotonie und endlicher Additivität von μ auf ring(𝒱) gilt „≥“.

Zum Beweis von „≤“ sei ε = Σn εn mit beliebigen εn > 0. Seien Cn  ∈  𝒱 derart, dass Cn ⊇ An − Bn und μ(Cn) ≤ μ(An − Bn) + εn für alle n gilt. Ohne Einschränkung gilt Cn ⊆ An ∩ A für alle n. Dann gilt (⋃i ≤ n Ci) ∪ B A. Damit erhalten wir:

μ(A) =  supn μ(⋃i ≤ n Ci ∪ B)
≤  μ(B) + Σn μ(Cn)
≤  μ(B) + ε + Σn μ(An − Bn)

Da ε beliebig klein ist, gilt

μ(A − B)  =  μ(A) − μ(B)  ≤  Σn μ(An − Bn).

 Die Supremums-Ausdehnung der ersten Proposition ist eindeutig, wenn wir die -Stetigkeit von μ erhalten wollen. Damit haben wir gezeigt:

Korollar

Sei μ ein (endliches) Maß auf einer Algebra 𝒜. Dann existiert eine eindeutige Fortsetzung von μ zu einem Maß auf ring(𝒜σ).

 Damit sind wir für eine rekursive Ausdehnung gut gerüstet. Wir müssen lediglich noch eine Approximationseigenschaft induktiv aufrechterhalten, um über den Limesschritt zu kommen. Genaueres zeigt der folgende Beweis.

Satz (Satz von Carathéodory, endliche Version)

Sei 𝒜 eine Algebra auf X, und sei μ0 ein endliches Maß auf 𝒜. Dann existiert genau eine Fortsetzung von μ0 zu einem Maß μ auf σ(𝒜). Für alle A  ∈  σ(𝒜) gilt zudem (mit einer nichtleeren Menge im Infimum):

(Ap)  μ(A)  =  inf ({ μ(U) | U  ∈  𝒜σ, A ⊆ U }).

Beweis

Sei 𝒜α, α < ω1, die Ring-Hierarchie von 𝒜. Wir definieren rekursiv Maße μα auf 𝒜α derart, dass μα|𝒜β = μβ für alle β < α gilt. Für alle α < ω1 zeigen wir dabei die folgende Approximationseigenschaft:

(Apα)  μ(A)  =  inf ({ μ(U) | U  ∈  𝒜σ, A ⊆ U }) für alle A  ∈  𝒜α

μ0 auf 𝒜 = 𝒜0 ist bereits definiert, und trivialerweise gilt (Ap0).

Nachfolgerschritt von α nach α + 1:

Sei μα + 1 die eindeutige Fortsetzung von μα zu einem Maß auf

𝒜α + 1  =  ring((𝒜α)σ)

Die Induktionsvoraussetzung (Apα) und ein „ε = Σn εn“-Argument zeigen, dass die Approximationseigenschaft auch noch für alle A  ∈  (𝒜α)σ gilt (im Spezialfall α = 0 ist dies sogar trivial). Aus (+) der Proposition folgt dann leicht (Apα + 1), da die Elemente von 𝒜α + 1 endliche Summen von Differenzen in (𝒜α)σ sind.

Limesschritt λ

Sei μλ = ⋃α < λ μα. Dann ist μλ ein Inhalt auf 𝒜λ. Es gilt (Apλ), da nach Induktionsvoraussetzung (Apα) für alle α < λ gilt. Ist A = Σn An in 𝒜λ und ε = Σn εn mit εn > 0, so gibt es nach (Apλ) Un ⊇ An in 𝒜σ mit

μλ(Un)  ≤  μλ(An)  +  εn.

Dann gilt:

A  ⊆  ⋃n Un  ∈  (𝒜σ)σ  =  𝒜σ  ⊆  𝒜1

μλ(A)  ≤  μλ(⋃n Un)  ≤  Σn μλ(Un)  ≤  ε + Σn μλ(An)

Also ist μλ(A) ≤ Σn μλ(An). Die Ungleichung „≥“ gilt nach Monotonie. Damit ist μλ ein Maß auf 𝒜λ.

Wir setzen nun μ = ⋃α < ω1 μα. Dann ist μ ein Maß auf σ(𝒜) = ⋃α < ω1 𝒜α.

Die Eindeutigkeit ist klar.

 Die Notation „μ = ⋃α < ω1 μα“ ist eine hinsichtlich des mengentheoretischen Funktionsbegriffs korrekte und bequeme Schreibweise. Äquivalent ist: Wir setzen μ(A) = μα(A) für alle α < ω1 und A  ∈  𝒜α.

 Aus Sicht des klassischen Beweises konstruieren wir also entlang der Ring-Hierarchie von 𝒜 ein Maß und zeigen dabei, dass das konstruierte Maß auf allen Stufen mit dem üblichen, durch die rechte Seite von (Ap) gegebenen, äußeren Maß von μ0 übereinstimmt. (Ap) wird für den Limesschritt gebraucht, die Vereinigung einer ⊆-aufsteigenden Kette von Maßen ist ein Inhalt, im allgemeinen aber kein Maß. Wir zeigen aber, dass die Vereinigungen solcher Ketten entlang der Ring-Hierarchie durch das Maß auf 𝒜σ „kontrolliert“ werden, und dies genügt, um im Limesschritt ein Maß zu erhalten.

 Für obigen Beweis muss ein äußeres oder inneres Maß auf der vollen Potenzmenge des Raumes X nicht eingeführt werden. An keiner Stelle wird eine Menge benutzt, die nicht zur erzeugten σ-Algebra von 𝒜 gehört. Die ad hoc Definition der Carathéodory-Bedingung (des „messbaren Zerlegers“) und die zugehörigen Tricks entfallen. Allerdings brauchen wir die Ordinalzahlen zumindest bis ω1 als Hilfsmittel. Alleine schon eine rekursive Erzeugung von σ-Algebren scheint diesen Mehraufwand zu rechtfertigen, da erst sie vor Augen führt, welche Mengen die von 𝒜 erzeugte σ-Algebra enthält; das Prädikat „erzeugen“ oder „generieren“ wird der rekursiven Konstruktion sehr viel besser gerecht als der Schnittdefinition.

 Der Autor darf hinzufügen, dass wir hier zwei Zugänge und Beweise vergleichen, aber nicht gegeneinander ausspielen wollen. Aus mengentheoretischer Sicht ist zum Beispiel eine auf der vollen Potenzmenge definierte Funktion wie das äußere Maß ein für sich interessantes und natürliches Objekt. Und der Schnittdefinition wird man zugute halten, dass sie in unkomplizierter Weise ein „Universum“ zur Verfügung stellt, von dem sichergestellt ist, dass es genügend viele Mengen enthält, um die gewünschten Operationen darin ausführen zu können.

 Aus der endlichen Version lässt sich der Existenz- und Eindeutigkeitssatz für σ-finite Maße auf Algebren durch die übliche Stückelung gewinnen. Alternativ kann man auch von vornherein unendliche Werte zulassen und den Fortsetzungssatz von Hausdorff entsprechend verallgemeinern. Im nicht σ-finiten Fall geht dann die Eindeutigkeit beim Übergang von (α)σ nach α + 1 verloren. Insgesamt erhält man den vollen Fortsetzungssatz von Carathéodory und eine größtmögliche Fortsetzung des gegebenen Maßes. Details hierzu findet der Leser in [ Deiser 2007b ].

 Wichtiger ist aber folgendes: Obiges Vorgehen legt nahe, die entwickelte Inhaltstheorie auf Verbänden zu einer Maßtheorie auf Verbänden auszudehnen. Dabei spielen Regularitätsbedingungen wie (+) eine wichtige Rolle. Der große Vorteil dieses Ansatzes ist, dass die Rekursion dann allgemeiner mit einem Verband starten kann und nicht nur mit einem Ring oder einer Algebra. Dadurch erhält man die wichtigen topologischen und abstrakten Regularitätssätze, die in der Maßtheorie üblicherweise erst spät entwickelt werden, geschenkt. Insgesamt hinterlassen sowohl die Regularitätstheorie als auch der rekursive Ansatz den Eindruck, dass Verbände anstelle der üblichen Ringe bzw. der damit eng verwandten Semiringe die angemessene Primstruktur der Maßtheorie sind. Damit knüpfen wir wieder bei Hausdorff an, bei dem ein derartiger Weg vorgezeichnet schien.

 Verbände sind in der Maßtheorie in jüngerer Zeit vor allen von H. König propagiert worden (vgl. z. B. [ König 1997 ]). König arbeitet mit Verallgemeinerungen der inneren und äußeren Maßes, um optimale topologische und abstrakte Regularitätsergebnisse zu erzielen. Der hier vorgeschlagene Ansatz liefert mit rekursiven Methoden dieselben − beweisbar optimalen − Ergebnisse im Hinblick auf innere und äußere Approximationen. Wir verweisen den Fachmann der Maßtheorie hier noch einmal auf die ausführliche Darstellung [ Deiser 2007b ].