A. Einleitung
A1. Einführung
Der Multiplikationssatz der Mengenlehre lautet:
Ist M eine unendliche Menge, so existiert eine Bijektion zwischen M × M und M.
Dieser Satz bedarf aufgrund seiner überzeugend schlichten Antwort auf ein sehr natürliches und zunächst schwieriges Problem keinerlei Werbemaßnahmen, jedoch ist das Interesse, das dem Satz zukommt, vielgestaltig: Von der mengentheoretischen Sternwarte aus ist der Satz Teil des Ergebnisses, dass alle kanonischen arithmetischen Operationen mit Mächtigkeiten letztendlich trivial sind mit Ausnahme der Exponentiation, deren Natur dafür um so schwerer zu ergründen ist. Geschichtlich trug der Spezialfall des Satzes für die reellen Zahlen − die Existenz einer Bijektion zwischen der Ebene und der Geraden −, viel zur Fundierung der Analysis bei, die sich gegen Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts vollzog. Weiter spiegelt die sich über drei Jahrzehnte erstreckende Geschichte des allgemeinen Satzes den gesellschaftlichen Wachstum einer Theorie wider, die aus einer schöpferischen Einzelleistung hervorging, und dann etwas frühreif als blue chip der mathematischen Börse dastand und ihren Crash auslöste. Was für die gesamte Mengenlehre gilt, gilt hier speziell für ein einzelnes Resultat: Georg Cantor geht den Weg zunächst ganz alleine, und lässt dabei genügend Raum für seine Epigonen übrig, seine Ideen nicht nur weiterzuentwickeln, sondern für sich neu zu ordnen und zu interpretieren. Seine schwindende mathematische Kraft gegen Ende des 19. Jahrhunderts markiert eine Unstetigkeitsstelle in der Entwicklung des Gebiets, die Tradierung seiner Intuition und seines Wissens gelingt nur bruchstückhaft. Seine Einsichten etwa über die Paradoxien der „absolut unendlichen Vielheiten“, der „großen“ echten Klassen im Gegensatz zu den „kleinen“ Mengen sind heute nur brieflichen Spuren folgend zu rekonstruieren. Dass Cantor einen Beweis des Multiplikationssatzes gesehen hat, ist nicht einmal handschriftlich dokumentiert, sondern nur einer Bemerkung von Felix Bernstein in seiner Dissertation von 1901 zu entnehmen, die dann einige Jahre lang in nebelhafter Weise verwendet wird.
Im Jahre 1905 veröffentlicht ein bis heute obskurer Herr A. E. Harward, angeregt durch nichts als Russells „Principles of Mathematics“ und zwei nicht gerade glänzende Artikel von Philip Jourdain in einem philosophischen Journal einen ersten vollständigen Beweis, der von der Mathematikergilde nicht wahrgenommen wird. Harward war Verwaltungsangestellter in Indien, und gibt der ganzen Geschichte eine kuriose und exotische Note. Er skizziert im Anhang seiner Arbeit noch einen zweiten Beweis, den Hausdorff erst 1914 wiederentdecken wird, und der im Wesentlichen den heute üblichen darstellt. Innerhalb der professionellen Mathematik gelingt Gerhard Hessenberg unabhängig von Harward ungefähr zeitgleich ein weiterer Beweis, der 1906 in seinem Lehrbuch „Grundbegriffe der Mengenlehre“ erscheint, und seither als erster Beweis des Satzes zitiert wird.
Ein wichtiger Satz der Mengenlehre, der zudem mit dem heute zentralen Begriff der Regularität von Kardinalzahlen in enger Beziehung steht, blieb durch einen mathematischen Generationenwechsel, gepaart mit der Nichtbeachtung eines Außenseiters, an der Jourdain nicht unschuldig ist, schätzungsweise ein ganzes Jahrzehnt verdeckt. Das Unglück der frühen Mengenlehre ist die mangelnde Zentrumsbildung um Cantor in den 80er und 90er Jahren, ihr Glück die Wiederaufnahme seiner Ideen in zwei völlig verschiedenen Richtungen durch Ernst Zermelo und Felix Hausdorff nach dem Jahrhundertwechsel, die in eine Zeit des allgemeinen Interesses an mathematischen Grundlagenfragen fiel.
Wir diskutieren die Geschichte des Satzes ausführlich in Abschnitt B. Nach diesem historischen Dokumentarfilm (ohne Werbeunterbrechung) betrachten wir zunächst den mathematischen Spezialfall des Satzes für die reellen Zahlen, und geben dann fünf verschiedene Beweise des allgemeinen Resultates. Die Beweise sind hier weder historisch noch nach ihrer Schwierigkeit geordnet, sondern nach der Menge an Mathematik, die in ihnen Verwendung findet. Beweis I braucht nur das Zornsche Lemma. Beweis II ist der heute allgemein übliche à la Harward-Jourdain-Hausdorff, allerdings so zugerichtet, dass der Leser nur den Wohlordnungsbegriff, aber keine Ordinalzahlen zu kennen braucht. Als Intermezzo beweisen wir dann die markante Äquivalenz von Multiplikationssatz und Auswahlaxiom, die im Dreisprung durch Sätze von Felix Bernstein, Friedrich Hartogs und Alfred Tarski zwischen 1901 und 1924 erreicht wurde. Danach versuchen wir mit Beweis III Wiederbelebungsmaßnahmen für den ersten Beweis von Gerhard Hessenberg. Auch Beweis IV stammt aus der Feder von Hessenberg, und bringt als Satyrspiel gegen Ende des Abends noch einmal neuen Witz ins Geschehen. Die Hessenbergschen Beweise beruhen auf der Arithmetik transfiniter Zahlen, sind modulo dieser Arithmetik dann aber trickreich konstruierte kurzweilige Einakter. Der Leser findet diese Beweise von Hessenberg in moderner und vereinfachter Form in den Abschnitten C 5 und C 6, die sich mehr an Spezialisten und Liebhaber richten. Gleiches gilt für Abschnitt C 7, ein Anhang, der mit Beweis V den ersten Beweis von A. E. Harward diskutiert, wenngleich dem Argument wohl in erster Linie nur geschichtliches Interesse zukommen dürfte. Ansonsten ist dieser Essay für jeden Mathematiker zugänglich, und soll all denen entgegen kommen, die an einem vollständigen und transparenten Beweis des Satzes und seiner historischen Position Interesse haben.
Nichts in diesem Artikel ist wirklich neu, doch finden sich der erste, dritte und vierte Beweis des Satzes wenn überhaupt dann verstreut unter anderen mengentheoretischen Sachverhalten. Zudem wird A. E. Harward an keiner einschlägigen Stelle im Zusammenhang mit dem „Satz von Hessenberg“ auch nur erwähnt. Insgesamt erschien dem Autor eine isolierte Darstellung des vielverzahnten Themas angebracht, und dies nicht nur aus historischem Interesse.
A2. Notationen und zentrale Sätze
Wir referieren in diesem Abschnitt die wichtigsten Bausteine der Mächtigkeitstheorie und der Theorie der Wohlordnungen. Das Bühnenbild ist das der klassischen Mathematik. Technisch gesprochen heißt das: Wir arbeiten in der üblichen Mengenlehre mit Auswahlaxiom. Die Verwendung des Auswahlaxioms ist für den behandelten Gegenstand von Bedeutung und wird daher jeweils notiert.
Stille Größe …
Sind M und N Mengen, so schreiben wir:
|M| = |N|, falls eine Bijektion von M auf N existiert
|M| ≤ |N|, falls eine Injektion von M nach N existiert
|M| < |N|, falls |M| ≤ |N|, aber |M| ≠ |N|
Ist |M| = |N|, so nennen wir M und N gleichmächtig ; ist |M| < |N|, so sagen wir, dass die Mächtigkeit von M kleiner ist als die Mächtigkeit von N. Dies ist die relationale Definition der Mächtigkeiten − wir haben nicht definiert, was „die Mächtigkeit von M“ selbst ist, und brauchen dies auch nicht tun.
Eine Menge M heißt (Dedekind-) unendlich, falls es eine echte Teilmenge N von M gibt mit |N| = |M|. Äquivalent hierzu ist: Es gilt |ℕ| ≤ |M|. (Diese Äquivalenz verwendet das Auswahlaxiom nicht. Es wird aber verwendet, um zu zeigen: M ist endlich genau dann, wenn es gibt ein n ∈ ℕ mit |M| = |{ 0, …, n - 1 }|.)
Wir notieren nun offiziell das Thema dieses Artikels:
Satz (Multiplikationssatz (Harward 1905, Hessenberg 1906))
Ist M eine unendliche Menge, so ist |M × M| = |M|.
Hessenberg beweist zugleich auch den verwandten Additionssatz: Die Vereinigung zweier disjunkter Kopien einer unendlichen Menge ist gleichmächtig zur Ausgangsmenge. Hierzu definieren wir für Mengen M und N:
M + N = M × { 0 } ∪ N × { 1 }
Die Mengen M′ = M × { 0 } und N′ = N × { 1 } sind gleichmächtige „Kopien“ von M bzw. N, und es gilt M′ ∩ N′ = ∅. Wir schreiben dann den Additionssatz wie folgt:
Satz (Additionssatz)
Ist M eine unendliche Menge, so ist |M + M| = |M|.
Für die Argumente in den Beweisen I, III, IV und V ist der Additionssatz ein fahrplanmäßiger Halt auf der Beweisstrecke. Beweis II zeigt den Multiplikationssatz direkt, und der Additionssatz ergibt sich dann als Korollar mit Hilfe des folgenden Satzes, der pausenlos im Einsatz ist:
Satz (Satz von Cantor-Bernstein; Cantor 1883, Dedekind 1887, Bernstein 1897)
Seien M, N Mengen mit |M| ≤ |N| und |N| ≤ |M|. Dann gilt |M| = |N|.
Cantor hat diesen Sachverhalt 1883 formuliert und einen Beweis angekündigt. Aber erst Felix Bernstein konnte den Satz 1897 in einem von Cantor veranstalteten Seminar in Halle vollständig beweisen. Dedekind hatte bereits 1887 einen Beweis entdeckt, der sich heute in seinem Nachlass findet. Für den Beweis des Satzes muss das Auswahlaxiom nicht verwendet werden.
Offenbar gilt |M| ≤ |M + M| ≤ |M × M| für Mengen M mit mindestens zwei Elementen, und daher folgt der Additionssatz aus dem Multiplikationssatz mit Hilfe von Cantor-Bernstein.
Wesentliches Hilfsmittel für Beweis I ist das Zornsche Lemma:
Satz (Zornsches Lemma ; Zorn 1935)
Ist P eine partiell geordnete Menge, in der jede total geordnete Teilmenge eine obere Schranke besitzt, so existiert ein maximales Element der Ordnung, d.h. ein x ∈ P mit: Ist y ∈ P und x ≤ y, so ist x = y.
Das Zornsche Lemma ist geeignet, den recht filigranen Begriff der Wohlordnung aus bestimmten Argumenten zu vertreiben, und ist auch zu dieser zuweilen etwas grobschlächtigen Anwendung ins Leben gerufen worden: Zorn gab 1935 das Lemma als Prinzip ohne Beweis an. Das Zornsche Lemma ist ein einfaches Korollar des Hausdorffschen Maximalitätsprinzips [ Hausdorff, 1914 ]. Aufgrund seiner einfachen Handhabung wurde es zum Exportschlager.
Das Zornsche Lemma ist, auf der Basis der anderen Axiome der Mengenlehre, äquivalent zum Auswahlaxiom. Gleiches gilt für den folgenden Satz:
Satz (Vergleichbarkeitssatz ; Cantor 1878, Zermelo 1904)
Seien M, N Mengen. Dann gilt |M| ≤ |N| oder |N| ≤ |M|.
Beweis
Ohne Einschränkung sind M, N nichtleer. Sei P die Menge aller Injektionen f : M′ → N mit M′ ⊆ M, geordnet durch Inklusion, d.h.
f ≤ g, falls f ⊆ g (g setzt f fort)
Das Zornsche Lemma findet Anwendung. Sei also f ∈ P maximal. Dann ist f : M → N injektiv oder f −1 : N → M injektiv.
Der Vergleichbarkeitssatz wurde von Cantor zunächst als „offensichtlich“ angesehen (vgl. den ersten Absatz von [ Cantor 1878 ]), später hat er den Satz dann als Problem formuliert [ Cantor 1895, Ende § 2 ] und bewiesen, aus heutiger Sicht jedoch nicht in vollständiger Strenge. Erst der Zermelosche Wohlordnungssatz von 1904 lieferte einen lückenlosen Beweis. Die Äquivalenz zum Auswahlaxiom (und damit zum Zornschen Lemma) hat Friedrich Hartogs gezeigt [ Hartogs 1915 ].
… und edle Ordnung
Eine totale Ordnung 〈 W, < 〉 ist eine Wohlordnung, falls jede nichtleere Teilmenge von W ein <-kleinstes Element besitzt. X ⊆ W ist ein (echtes) Anfangsstück von W, falls ein b ∈ W existiert mit X = { a ∈ W | a < b }. Wir schreiben im Folgenden oftmals nur W für eine Wohlordnung 〈 W, < 〉. Eine die Menge W wohlordnende Relation < ⊆ W × W ist dann stillschweigend mit dabei.
Zwei Wohlordnungen W1 und W2 sind ordnungsisomorph oder gleichlang, falls eine Bijektion f : W1 → W2 existiert, sodass für alle a, b ∈ W1 gilt: a < b genau dann, wenn f (a) < f (b). W1 ist (strikt) kürzer als W2, falls W1 isomorph zu einem Anfangsstück von W2 ist.
Ein Hauptmerkmal von Wohlordnungen ist die Vergleichbarkeit ihrer Längen:
Satz (Vergleichbarkeitssatz für Wohlordnungen; Cantor 1897)
Seien W1 und W2 zwei Wohlordnungen. Dann tritt genau einer der
drei folgenden Fälle ein:
(i) | W1 und W2 sind gleichlang. |
(ii) | W1 ist kürzer als W2. |
(iii) | W2 ist kürzer als W1. |
Insbesondere sind Wohlordnungen niemals gleichlang zu ihren eigenen Anfangsstücken.
Der Vergleichbarkeitssatz für Wohlordnungen ist ohne Auswahlaxiom beweisbar. Allgemein wird das Auswahlaxiom beim Jonglieren mit Wohlordnungen nie gebraucht, da man immer auf einen kleinsten Zeugen innerhalb irgendetwas Nichtverschwindendem zugreifen kann, anstatt nur auf einen Zeugen, was der Job einer Auswahlfunktion wäre. Lediglich um die nackte Existenz von Wohlordnungen zu sichern ist das Auswahlaxiom bitter nötig:
Satz (Wohlordnungssatz; Zermelo 1904, zweiter Beweis 1908)
Jede Menge lässt sich wohlordnen:
Ist M eine Menge, so existiert eine Wohlordnung < auf M.
Der Zermelosche Wohlordnungssatz ist äquivalent zum Auswahlaxiom.
Noch ein paar Worte zu Ordinalzahlen und Kardinalzahlen. In der Mengenlehre definiert man Ordnungstypen oder Ordinalzahlen nach Cantor informal als das allen Wohlordnungen gleicher Länge Gemeinsame, oder formal nach von Neumann und Zermelo als bestimmte natürliche und uniform definierbare Repräsentanten für Wohlordnungen − je ein Repräsentant pro Länge. Die transfiniten Zahlen sind dann in beiden Versionen einfach diejenigen Ordinalzahlen, die den unendlichen Wohlordnungen zugeordnet sind.
Man kann mit Wohlordnungen (und folglich mit Ordinalzahlen) arithmetisch operieren: Hintereinanderhängen zweier Ordnungen führt zur Summe, lexikographische Ordnung des kartesischen Produkts (oder iterierte Summation) führt zur Multiplikation, iterierte Multiplikation zur Exponentiation.
Ganz ähnlich kann man Kardinalzahlen informal als das allen Mengen gleicher Mächtigkeit Gemeinsame definieren. Eine formale Definition ist möglich, auch in einer Mengenlehre ohne Auswahlaxiom (mit einer nichttrivialen Konstruktion). Alephs sind nun diejenigen Kardinalzahlen, die zu den unendlichen wohlordenbaren Mengen gehören. Mit Hilfe des Wohlordnungssatzes sind alle Mengen gleichmächtig zu einer Wohlordnung, und die Alephs fallen dann mit den unendlichen Kardinalzahlen zusammen. In einer Mengenlehre ohne Auswahlaxiom bilden die Alephs eine Teilklasse der unendlichen Kardinalzahlen, und bzgl. der Vergleichbarkeit von Kardinalzahlen kann dann nur noch für die Alephs Garantie übernommen werden.
Mit Kardinalzahlen können wir ebenfalls rechnen, die Operationen sind hier über die Mächtigkeiten von Summe, kartesischem Produkt und, für die Exponentiation, der Menge aller Funktionen von einer Menge der Mächtigkeit des Exponenten in eine Menge der Mächtigkeit der Basis definiert.
Diese knappen Bemerkungen genügen hoffentlich, weite Strecken des folgenden historischen Teils für jeden Leser zugänglich zu machen.