Einleitung
„Kardinalzahl“ ist ein Schlüsselbegriff der Mengenlehre, aber er ist nicht leicht zu definieren. Cantor baute seine neue Theorie auf Ordinal- und Kardinalzahlen auf, aber er gab, was heutige Standards betrifft, keine genaue Definition beider Begriffe. Die Komplexität einer präzisen Definition wurde erst viel später erkannt, und es spricht für Cantors herausragende Intuition, dass er alle grundlegenden Phänomene der unendlichen Ordinal- und Kardinalzahlen ohne eine formal-untadelige Definition finden konnte − einschließlich der Tatsache, dass die Komprehensionen aller Ordinal- und Kardinalzahlen, in heutiger Sprache „echte Klassen“ sind.
In diesem Essay diskutieren wir, an Mathematik, Geschichte und Philosophie interessiert, den Begriff einer endlichen und unendlichen Kardinalzahl. Ziel ist, eine umfassende und vielfältige Darstellung des Themas zu präsentieren. Dabei stehen die Arbeiten von Georg Cantor naturgemäß im Mittelpunkt.
Wir setzen voraus, dass der Leser ein Grundwissen über axiomatische Mengenlehre besitzt. Einige kurze Formulierungen der griechischen Mathematik werden im Original zitiert, um sie von Übersetzungen unabhängiger zu machen. Eine Kenntnis des Altgriechischen ist nicht notwendig.
Die axiomatische Mengenlehre, wie sie in der Zermelo-Fraenkel-Axiomatik formuliert und in der Prädikatenlogik erster Stufe formalisiert wird, ist unser Maßstab. Wir analysieren Dokumente und verfolgen Entwicklungen, die aus der Sicht der axiomatischen Mengenlehre interessant sind (mathematisch, historisch und philosophisch). Dass die axiomatische Mengenlehre als Orientierung und Sieb dient, bedeutet nicht, dass der „absolute Wert“ von Beiträgen zu den Grundlagen der Mathematik nur mit ZFC gemessen werden könnte. Aber ZFC hat präzise Antworten auf die Fragen, denen wir hier nachgehen, gefunden, und sich geschichtlich als die Theorie etabliert, die aus diesen Fragen hervorging. Ein Vergleich mit der Analysis drängt sich hier auf: Als mathematische Messlatte der Grundlagen der Analysis kann der heutige Begriff „vollständiger angeordneter Körper“ dienen, auf dessen Basis sich die von Newton und Leibniz gefundene Differential- und Integralrechnung präzise entwickeln lässt. Das schließt andere Ansätze mit tatsächlich vorhandenen infinitesimalen Größen nicht aus.
Drei Aspekte dieses Essays sind vielleicht explizit erwähnenswert: (1) Die Darstellung ist nicht streng chronologisch. (2) Wir greifen eine zweitausend Jahre lange Zeitspanne auf. Die griechische Zahldefinition ist für die Kardinalzahlen der Mengenlehre ebenso wichtig wie bestimmte Überlegungen der Scholastik. (3) Cantors Theorie ist mehr als eine Vorstufe der axiomatischen Mengenlehre, aber es führt doch ein direkter Weg von ihm zu ZFC. Seine Schriften sind von unvergleichbarer Bedeutung, geschichtlich und inhaltlich. ZFC erscheint als Interpretation des Cantorschen Erbes.
Der Essay ist wie folgt aufgebaut:
Abschnitt A: Heutige mathematische Sicht
Wir beginnen mit den beiden heutigen Definitionen von Kardinalzahl von John von Neumann in ZFC (1923, 1928) in ZFC und Dana Scott in ZF (1955). Diese Definition ergeben, zusammen mit zugehörigen metamathematischen Ergebnissen von Azriel Levy (1969) und anderen, den Rahmen für alles Weitere (entsprechend dem Leitmotiv des Maßstabs ZFC).
Abschnitt B1: Antike und Scholastik
In Abschnitt B diskutieren wir, in vier Unterabschnitten, Meilensteine der Entwicklung hin zu den heutigen axiomatischen Definitionen. Wir beginnen mit den Definitionen von „Zahl“ (ἀριθμός) in der Griechischen Mathematik. Sie wurden durch das Mittelalter hindurch immer wieder aufgegriffen und spielen eine Schlüsselrolle für den Cantorschen Kardinalzahlbegriff.
Abschnitt B2: Cantors Definition von 1895
Wir springen zu Cantors abschließender und einflussreichster Definition von „Kardinalzahl“ aus den „Beiträgen“ von 1895. Einige Bestandteile dieser Definition sind in den heutigen Definitionen nicht mehr vorhanden. Es ist ein Ziel dieses Essays, seinen Begriff im Licht sowohl der Tradition als auch der Anpassung und schließlich formalen Interpretation sinngetreu und möglichst genau zu beschreiben.
Abschnitt B3: Frege und Russell im Kontrast
Wir stellen Cantors Definition der von ihr stark verschiedenen Behandlung von Kardinalzahlen durch Frege und später Russell gegenüber. Dabei gehen wir auch auf den unglücklichen Streit zwischen Cantor und Frege ein.
Abschnitt B4: Rezeption der Cantorschen Definition
Thema dieses Abschnitts ist die Rezeption von Cantors Definition durch die Mengentheoretiker der folgenden Generation (in chronologischer Form). Im Zentrum steht hier Felix Hausdorff und sein Lehrbuch von 1914. Die Rezeption führt schließlich zu den modernen Definitionen.
Abschnitt C: Detailanalyse des Cantorschen Begriffs
Wir blicken zurück und analysieren Cantors Ausführungen zu Kardinalzahlen in seinen Veröffentlichungen, Aufzeichnungen und Briefen ab 1874 im Detail. Dadurch können wir die Reifung des Begriffs über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten beobachten. Wie in Abschnitt B4 ist die Darstellung chronologisch. Sie mündet in die abschließende Definition von 1895.
Ein strikt chronologischer Aufbau des Essays wäre aus der Sicht des Autors eher nachteilig. Die Details des Cantorschen Kardinalzahlbegriffs können, je nach Interesse des Lesers, ebenso faszinierend wie ermüdend sein. Abschnitt C ist nicht nötig, um nachvollziehen zu können, was passiert ist und kann damit als „Anhang“ aufgefasst werden. Er kann aber umgekehrt auch zum Ausgangspunkt werden, die weniger bekannten Originalarbeiten von Georg Cantor aufzusuchen und neu zu interpretieren.