B1. Die klassischen Zahldefinitionen

 In der Griechischen Mathematik sind zwei Zahldefinitionen vorherrschend:

μονάδων σύστημα  und  πλῆθος ὡρισμένον

Hier bedeutet „Zahl“ eine „natürliche Zahl größergleich 1“ oder sogar „größergleich 2“. Die Eins wurde oftmals nicht zu den Zahlen gezählt (siehe Aristoteles Metaphysik 1088a sowie [ Heath 1949, p. 83f ], [ Gericke 1970, p. 29f ]).

Die Zahlen erst mit der Zwei beginnen zu lassen, ist eine bemerkenswerte Ergänzung der modernen Diskussion, ob die Null eine natürliche Zahl ist oder nicht. Nach der von Neumann Definition der Ordinalzahlen wäre es unnatürlich, die Null auszuschließen. Dies verwehrt der Zahlentheorie keineswegs, bei der Eins zu beginnen.

 Die Bedeutung und die Unterschiede der beiden Zahldefinitionen ist Gegenstand der Diskussion. Ihre Interpretation wird zudem durch die Übersetzung der Begriffe ins Lateinische oder moderne Sprachen beeinflusst.

 Die erste Zahldefinition lässt sich als „System von Einheiten“ übersetzen, wobei eine Einheit ein „Punkt ohne Position“ und die „Grenze des Wenigen“ ist [ Becker 1964, p. 34; Heath 2003, p. 38 ]. Bei Euklid ist eine Einheit das „wodurch jedes Ding das existiert eins genannt wird“ [ Euklid, Elemente VII. 1 ]. Platon beschreibt die mathematischen Einheiten als ununterscheidbare und unteilbare Objekte des Denkens (Politeia VII, 525f). Wir verweisen den Leser auf [ Szabó 1969, III. 14 ] für eine genauere Diskussion der mathematischen Einheiten bei Platon und Euklid.

 Die zweite Definition bedeutet „begrenzte Vielheit“. Dabei ist „Vielheit“ eine Anzahl, die in diskrete Teile zerlegt werden kann. Das griechische Wort πλῆτος ist abgeleitet von πολυ „viel“. Die übliche Übersetzung von πλῆτος ins Lateinische ist multitudo. (Siehe [ Gericke 1973, p. 154 ] für die Verwendungen von πλῆτος in der Mathematik.)

 Beide Definitionen finden sich in der „Einführung in die Arithmetik“ des Nicomachus von Gerasa um 100 n. Chr. (Buch 1, Kapitel VII). Nicomachus führt sogar noch eine dritte Definition in seinem Buch an, die wir hier noch kurz erwähnen:

ποσότητος χύμα ἐκ μονάδων συγκείμενον

Anicius Boethius übersetzt dies durch „quantitatis acervus ex unitatibus profusus“, sodass χύμα als acervus „Haufen, Menge“ interpretiert wird [ Boethius 1867, p. 13 ]. Dabei wird χύμα von Nicomachus auch als „Reihe“ verwendet (Buch II/X) (siehe auch [ Gericke 1970, p. 28 ]). Martin D’Ooge übersetzt es als „flow“ in seiner Ausgabe von 1926. Die dritte Definition beschreibt also eine Zahl in etwa als „Haufen/Reihe/Abfolge“ einer Größe, die aus Einheiten zusammengesetzt ist“. (Vgl. hierzu [ Cantor 1887, p. 252 ] für Cantors Lesart; siehe weiter auch [ Iamblichus 1894, p. 10 ].)

 Iamblichus von Chalcis schreibt in seinem um 300 n. Chr. verfassten Kommentar zu Nicomachus die erste Definition dem Thales zu: Er habe diese aus Ägypten, wo er erzogen wurde, mitgebracht. Die zweite Definition wird bei Aristoteles diskutiert (Metaphysik 1020a). Iamblichus verweist auf Eudoxos. Beide Definitionen sind wahrscheinlich älter als Euklids Definition in den Elementen.

 Gericke stellt in seiner Analyse heraus, dass die beiden Definitionen zwei verschiedenen Methoden des Definierens angehören: Die erste ist ein Beispiel für eine, wir er es mit Verweis auf Hilbert nennt, „generische Definition“, die uns mitteilt, wie ein neues Objekt aus einfacheren Objekten hervorgeht (wie etwa „Ein Tisch ist ein Brett mit vier Beinen.“). Die zweite ist ein Beispiel einer „systematischen Definition“, die uns sagt, wie wir einen umfassenderen Begriff einzuschränken haben (wie etwa „Ein Hund ist Tier mit diesen und jenen Eigenschaften.“) [ Gericke 1970, p. 20f; 1973, p. 152 ].

 Gemäß der ersten Definition wird eine Zahl durch das Verbinden von Einheiten erzeugt, durch das ein „System“ (im Singular, also ein Objekt) entsteht. Die ersten realen Zahlrepräsentationen entsteht in dieser Weise: Steine auf dem Fußboden, Striche im Sand, Kerben in einem Stück Holz. Diese Vorstellung ist noch heute lebendig, wenn wir Zahlen darstellungsfrei in der Form

|,  ||,  |||,  ||||,  …

notieren. Ob eine Zahl gemäß dieser Definition mehr ist als eine (Multi-)Menge von Einheiten ist erneut eine Frage der Interpretation. Das griechische Wort σύστημα kann vergleichsweise neutral als „System“ übersetzt werden. Es ist interessant, dass Dedekind „System“ für das verwendet hat, was wir heute als „Menge“ in der Mathematik verstehen [ Dedekind 1888, Art. 2 ]. Der Begriff „Menge“ wurde durch Bolzano und Cantor geprägt. Die heutige Mengenlehre könnte damit auch Systemtheorie heißen.

 Die Diskussion der zweiten Definition bei Aristoteles lässt sich als zweifache Restriktion des umfassenderes Begriffs einer Größe (ποσόν) auffassen: Zunächst wird Größe reduziert auf diskrete Größe (πλῆθος), wodurch kontinuierliche Größen ausgeschlossen werden. Nun wird diskrete Größe reduziert auf begrenzte Größe, wobei das griechische ὡρισμένον die Bedeutungen „bestimmt, begrenzt, definiert“ aufweist. Aristoteles verwendet auch πεπερασμένον anstelle von ὡρισμένον.

 Die erste Definition strebt Zahlen als bestimmte ideale Objekte an und lässt sich insgesamt dem Ziel einer kanonischen repräsentierenden Objektdefinition zuordnen. Die zweite Definition lässt eine extensionale Lesart zu, und beschreibt so, in modernisierter Form, die Klasse aller endlichen Mengen. Sie entspricht dem Ansatz von Frege-Russell, wenn wir Cantors Gleichmächtigkeit von Mengen als principium divisionis verwenden.

 Euklid verbindet beide Definitionen. In seinen Elementen definiert er:

Euklid (Elemente)):

Ἀριθμὸς τὸ ἐκ μονάδων συνκείμενον πλῆτος. „Zahl ist eine aus Einheiten zusammengesetzte Vielheit.“ [ Euklid, Elemente VII. 2]

Hier sind Bestandteile aus beiden Definitionen zu finden. Da aber Einheiten den Stoff bilden, aus dem die Zahlen gemacht sind, dominiert die erste Definition. Euklids Definition verwendet mit συνκείμενον zudem einen Begriff der dritten Definition bei Nicomachus. Sie erscheint so als Synthese verschiedener Versuche, den Zahlbegriff zu fassen.

 Das Begriff „System“ taucht bei Euklid nicht mehr auf, und damit scheint Euklids Definition der „internen Struktur“ einer Zahl weniger Bedeutung zuzumessen. Die Endlichkeit wird stillschweigend vorausgesetzt. Es ist verführerisch Euklids Definition wie folgt zu modernisieren: „Eine Zahl ist eine endliche aus Einheiten bestehende Multimenge“. Wir werden sehen, dass Cantors Definition einer Kardinalzahl von 1895 diese Lesart aufgreift. Sie wird die Endlichkeit streichen, dafür aber beschreiben, wie Kardinalzahlen entstehen.

 Die klassischen Definitionen wurden im Mittelalter häufig wiederholt und kommentiert. Boethius definiert in seiner „De Arithmetica“, einer vagen Übersetzung des Buches von Nicomachus: „numerus est unitatum collectio“ [ Boethius 1867, p. 13 ]. Flavius Cassiodorus übersetzt Euklids Definition in seinen „Institutiones“ von 562 n. Chr. als: „numerus est ex monadibus multitudo composita“ [ Cassiodorus 1937, p. 133 ]. Derartige Formulierungen sind bis in die Moderne Folklore.

 Noch älter als der Zahlbegriff ist möglicherweise der Vergleich von diskreten Größen durch Paarbildung. Zwei Herden lassen sich in ihrer Größe vergleichen ohne sie zu zählen: Wir vermindern sie jeweils um eine Einheit auf jeder Seite, was einer Paarbildung entspricht und modern gelesen zu Injektionen, Surjektionen bzw. Bijektionen führt. Die Erfindung und der praktische Erfolg der natürlichen Zahlen mag diese einfache Idee verdrängt haben, aber sie wurde nicht vollständig vergessen. Sie wird im späten Mittelalter in den Arbeiten des Albert von Sachsen diskutiert. Er notiert explizit, dass zwei Größen die gleiche Anzahl an Elementen besitzen, wenn es eine vollständige Paarbildung zwischen ihnen gibt [ Maier 1949, p. 170f; Gericke 1977, p. 54, 61 ]. Später erscheint dieser Gedanke in David Humes „Treatise of human nature“ (1739/1740), und Frege nimmt hierauf Bezug [ Frege 1884, § 63 ]. Albert von Sachsen diskutiert auch ein unendliches Beispiel:

Man betrachte einen unendlich langen Holzstamm, schneide wiederholt einen Fuß breite Scheiben ab, und forme diese Scheiben in einer volumenerhaltenden Art und Weise zu einer immer größer werdenden Kugel, sodass die Scheiben zu Kugelschichten werden.

Dadurch wird eine Bijektion zwischen dem Holzstamm und dem dreidimensionalen Raum erzeugt. Das das Volumen des Holzstamms unendlich und die Verformung der Scheiben volumenerhaltend ist, kann die entstehende Kugel keinen endlichen Radius besitzen. Derartige Beispiele waren im späten Mittelalter populär, und es ist nicht bekannt, wer sie gefunden hat. Sie sind Teil einer umfassenden Diskussion über Unendlichkeit (ἄπειρον). Einige als paradox empfundene Phänomene wurden von Galileo und Bolzano aufgegriffen [ Galileo 1638; Bolzano 1851, § 20 ]. Viele Schlussfolgerungen waren dabei voreilig und fehlgeleitet durch das klassische Prinzip, dass das Ganze immer größer sei als jeder seiner echten Teile. Die Phänomene des Unendlichen wurden in ihrem mathematischen Reichtum erst erkannt, als Cantor 1874 die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen entdeckte und 1878 den allgemeinen Begriff der der relationalen Gleichmächtigkeit formulierte. Zuvor gab es „Unendlich“ nur als ein unstrukturiertes Ganzes mit paradoxen Eigenschaften und nicht sichtbarer Theorie.

 Wir besprechen Cantors vielfältige Überlegungen zu Mächtigkeiten im Detail in Abschnitt C. Hier wenden wir uns direkt seiner abschließenden Definition von Kardinalzahl aus dem Jahr 1895 zu.