B3. Die Definitionen von Frege und Russell

1884 / 1885 / 1892  −  Freges Definition und der Streit mit Cantor

 In seinem Buch „Die Grundlagen der Arithmetik“ von 1884 definiert Frege Kardinalzahlen („Anzahlen“) wie folgt:

Frege (1884):

„… Ich will der Kürze wegen den Begriff F dem Begriffe G gleichzahlig nennen, wenn diese Möglichkeit [ die unter den einen den unter den anderen Begriff fallenden Gegenstände beiderseits eindeutig zuzuordnen ] vorliegt, muss aber bitten, dies Wort als eine willkührlich gewählte Bezeichnungsweise zu betrachten, deren Bedeutung nicht der sprachlichen Zusammensetzung, sondern dieser Festsetzung zu entnehmen ist.

 Ich definire demnach:

die Anzahl, welche dem Begriffe F zukommt, ist der Umfang*) des Begriffes ‚gleichzahlig dem Begriffe F‘.“ [ Frege 1884, § 68 ]

 In der Fußnote „*)“ zu „Umfang“ spricht sich Frege für die Identifikation von „Begriff“ und „Umfang des Begriffes“ aus.

 In der heutigen mengentheoretischen Sprache formuliert definiert Frege die Kardinalität einer Menge M als die Klasse aller zu M gleichmächtigen Mengen. Die Probleme dieser Definition diskutieren wir im Kontext von Russells Rezeption der Ideen von Frege.

 Cantor schrieb eine Rezension über die „Grundlagen“ von Frege. Sie erschien im Mai 1885 und kritisiert Freges Anzahl-Definition:

Cantor (1885):

„Weniger erfolgreich dagegen scheint mir sein eigener Versuch zu sein, den Zahlbegriff streng zu begründen. Der Verf [ asser ] kommt nemlich auf den unglücklichen Gedanken − und es scheint, dass er dabei einer Andeutung Ueberwegs in dessen ‚System der Logik‘ § 53 gefolgt ist −, dasjenige, was in der Schullogik der ‚Umfang eines Begriffes‘ genannt wird, zur Grundlage des Zahlbegriffs zu nehmen; er übersieht ganz, dass der ‚Umfang eines Begriffs‘ quantitativ im allgemeinen etwas völlig Unbestimmtes ist; nur in gewissen Fällen ist der ‚Umfang eines Begriffs‘ quantitativ bestimmt, dann kommt ihm allerdings, wenn er endlich ist, eine bestimmte Zahl und, falls er unendlich ist, eine bestimmte Mächtigkeit zu. Für eine derartige quantitative Bestimmung des ‚Umfangs eines Begriffs‘ müssen aber die Begriffe ‚Zahl‘ und ‚Mächtigkeit‘ vorher, von anderer Seite her bereits gegeben sein und es ist eine Verkehrung des Richtigen, wenn man unternimmt, die letzteren Begriffe auf den Begriff ‚Umfang eines Begriffs‘ zu gründen.“ [ Cantor 1885, col. 728 ]

Die Referenz „§ 53“ ist [ Ueberweg 1882, p. 140f. ].

 Da Frege die relationale Definition von Mächtigkeit für „gleichzahlig“ verwendet, ist Cantors logischer Einwand nicht gültig, und dies erweckt den Eindruck, dass Cantor Frege falsch gelesen hat. Frege wiederholte seine Definition in seiner Antwort auf Cantors Rezension von 1885, um, wie er schreibt, ein Missverständnis zu klären [ Frege 1967, p. 112 ]. Eine unterschiedliche Interpretation von Cantors Rezension findet sich in [ Tait 1996 ]: Cantor könnte hier auf seine Entdeckung von 1883 hinweisen, dass der Begriff „transfinite Zahl“ eine „absolut unendliche“ Extension besitzt und daher quantitativ unbestimmt ist. Wir werden in Abschnitt C eine Passage aus dem unveröffentlichten Cantorschen Artikel von 1884 diskutieren, die zeigt, dass Cantor das Phänomen des „absolut Unendlichen“ zu dieser Zeit beschäftigte. Damit lässt sich gegen die Interpretation des „Missverständnisses“ von Freges Anzahlbegriff argumentieren. Andererseits scheint jede derartige Lesart den Text der Rezension zu überladen. Die Rezension erschien in einem literarischen Journal und wir dürfen annehmen, dass sie als allgemeinverständlich intendiert war.

 In seiner Rezension bringt Cantor auch eine Version seines eigenen Mächtigkeitsbegriffs:

Cantor (1885):

„Ich halte es daher auch nicht für zutreffend, wenn der Ver. in § 85 die Meinung ausspricht, dasjenige, was ich ‚Mächtigkeit‘ nenne, stimme mit dem überein, was er ‚Anzahl‘ nennt. Ich nenne ‚Mächtigkeit eines Inbegriffs oder einer Menge von Elementen‘ (wobei letztere gleich- oder ungleichartig, einfach oder zusammengesetzt sein können) denjenigen Allgemeinbegriff, unter welchen alle Mengen, welche der gegebenen Menge äquivalent sind, und nur diese fallen.“ [ Cantor 1885, col. 728/729 ]

Hier hat Cantor recht, unabhängig davon, ob er Freges Anzahl-Definition missverstanden hat oder nicht. Cantor erläutert seinen „Allgemeinbegriff“ nicht weiter, aber ist es geht klar aus seinen früheren und späteren Schriften hervor, dass er Freges extensionale Definition der Mächtigkeit ablehnt (und folglich fundamentale Unterschiede zu seiner eigenen Definition sieht).

 Frege wiederholte in seiner Antwort auf Cantors Rezension (und zudem weniger eindeutig in seiner eigenen Rezension von 1892), dass Cantors Kardinalzahldefinition von 1885 mehr oder weniger seine eigene sei [ Frege 1967, p. 112 ]. Viele Autoren stimmen hier mit Frege überein (siehe etwa [ Zermelo 1932, p. 441f ], [ Scholz / Schweitzer 1935, p. 17 ], [ Fraenkel 1961, p. 61 ], [ Felgner 2002, p. 634f ] ). Wir möchten dagegen für eine andere Bewertung argumentieren. In seiner Antwort auf Cantors Rezension schreibt Frege:

Frege (1885):

„Die Abweichung, daß Herr Cantor ‚Allgemeinbegriff‘ sagt, wo ich ‚Umfang des Begriffs‘ sage, erscheint … als eine Unwesentliche“ [ Frege 1967, p. 112 ].

Die Abweichung ist, wie das Phänomen der echten Klassen zeigt, alles andere als unwesentlich. Cantors Allgemeinbegriff setzt die antike und scholastische Tradition fort, und diese traditionellen Allgemeinbegriffe sind keine Begriffsumfänge. Cantors Kardinalzahldefinition der Rezension von 1885 ist ein Fragment der Definition von 1895, aber keine wirklich verschiedene Definition. Cantors Kardinalzahldefinitionen vor 1885 unterstützen dieses Sicht (siehe Abschnitt C).

 Frege rezensierte umgekehrt Cantors Abhandlung „Zur Lehre vom Transfiniten“ aus dem Jahr 1890. Diese Abhandlung enthält Essays, die zwischen 1886 und 1886 in einem philosophischen Journal erschienen waren. Die Rezension von Frege ist sehr scharf, und er beschwert sich darin über Cantors Rezension seines eigenen Buches. Zudem kritisiert er Cantor erneut für seine Kardinalzahldefinition. Sie stimmt nun, mit kleineren Abweichung, mit der finalen Version von 1895 überein:

Frege (1892):

„Wenn Herr Cantor meine ‚Grundlagen der Arithmetik‘ nicht nur rezensiert, sondern auch mit Nachdenken gelesen hätte, so würde er viele Fehler vermieden haben … Herr Cantor wiederholt (S. 13) eine Definition als sein geistiges Eigentum, die er in der Rezension meines Buches gegeben hatte. Sie schien mir damals von meiner eignen nur unwesentlich in den Ausdrücken verschieden zu sein, was ich auch in einer Erwiderung aussprach, und ich konnte denken, er sei durch eigne Arbeit zu wesentlich gleichem Ergebnisse gelangt wie ich selber. Jetzt sehe ich, daß die in meinem Buche ausgesprochenen Wahrheiten doch nicht so auf der Straße lagen, daß man sich nur zu bücken brauchte, um sie sich anzueignen. Herr Cantor gibt nämlich noch andere Definitionen (S. 23 und S. 56), die zeigen, daß er noch ganz auf einem veralteten Standpunkte steht.“ [ Frege 1967, p. 164 ]

 Dies ist zweideutig formuliert: Wirft Frage Cantor ein Plagiat vor? Oder behauptet er lediglich, dass Cantor eine Definition verwendet, die ihm altmodisch erscheint? Die Antwort scheint ein „ja“ auf beide Fragen zu sein. Das ja auf die erste Frage wird durch das sarkastische „als sein geistiges Eigentum“ und „andere Definitionen“ gestützt. Das „ja“ auf die zweite Frage durch „damals“ and „jetzt sehe ich“.

 Frege fährt mit einer Kritik an der Cantorschen „Abstraktion“ und seinen „Einheiten“ fort:

„… Er verlangt unmögliche Abstraktionen und ist im unklaren darüber, was unter ‚Menge‘ zu verstehen ist … Nur um meine Behauptung nicht ganz ohne Begründung zu lassen, führe ich an, daß hier natürlich wieder jene unglücklichen Einsen vorkommen, die verschieden sind, obgleich sie sich voneinander durch nichts unterscheiden …

 Was nun die Ordnungszahlen und Ordnungstypen anbelangt, so kann ich ihre Begründung, die Herr Cantor gibt, ebensowenig wie die der Kardinalzahlen als ausreichend anerkennen. Er gibt an, wie man abstrahieren müsse, um sie zu erhalten. Aber eine solche Angabe kann nicht als Definition gelten; denn entweder wird das zu Definierende dabei dabei als bekannt vorausgesetzt, oder es wird nicht eindeutig bestimmt, falls die Abstraktion überhaupt ausführbar ist, und das ist sie hier nicht einmal. Auch ist das Wort ‚abstrahieren‘ ein psychologischer Ausdruck, der als solcher in der Mathematik zu vermeiden ist. Damit will ich aber nicht leugnen, daß sich das, was Herr Cantor fassen will, einwandfrei definieren lasse. Welche Bedeutung die Ordnungstypen für die Mathematik dann erhalten würden, läßt sich wohl noch nicht übersehen. Vielleicht gewinnen sie einen engern Zusammenhang mit der übrigen Mathematik und wirken befruchtend auf sie ein. Ich möchte das nicht für ausgeschlossen halten.“ [ Frege 1967, p. 164f ]

 Dass Cantor, der zu diesem Zeitpunkt die Mengenlehre der reellen Zahlen zu einer Theorie mit enormer Wirkungsgeschichte ausgebaut hatte und darüber hinaus das heutige Bild der Ordinal- und Kardinalzahlen einschließlich des Phänomens der echten Klassen klar vor Augen hatte, als altmodischer Herr gezeichnet wird, der im Gegensatz zu Frege leider immer noch nicht so recht weiß, was eine „Menge“ ist, kann unkommentiert bleiben. Frege diskrediert sich hier selbst. Wie gut, dass es die Mathematik gibt.

 Die meisten Mathematiker reagierten weniger kritisch auf Cantors Ordinal- und Kardinalzahlen (vgl. [ Ziehen 1917, p. 23f ]). Sie untersuchten den mathematischen Reichtum dieser Begriffe, die durch Cantors Arbeiten über „unendliche Punktmannigfaltigkeiten“ in den 1880er Jahren offenbar wurden.

 Mathematische Struktur kann und darf, wie wir bereits oben argumentiert haben, ohne formale Definitionen entdeckt und untersucht werden. Wenn das kleine „dann“ im drittletzten Satz der zitierten Passage als Forderung zu verstehen ist, dass ein Begriff präzise definiert werden muss, bevor ihm eine wichtige Stellung in der Mathematik zukommt, so ist es schädlich für die Mathematik. Wie viel wäre verloren gewesen, hätten die mathematischen Journale Cantors und später auch Hausdorffs Arbeiten abgelehnt, weil sie keine präzisen Definitionen von Kardinalzahlen, Ordinalzahlen und Ordnungstypen enthielten. Die nicht erfolgte Veröffentlichung der einen Cantorschen Arbeit von 1884 hat schon genug Schaden angerichtet. Man kann Frege zugutehalten, dass er durch Cantors Rezension seines Buches verletzt war. Der sehr polemische Entwurf zu seiner „Retour-Rezension“ unterstützt den Eindruck, dass Freges Reaktion emotional aufgeladen war [ Frege 1983, p. 79f ]. Und schließlich hat der Abschluss der zitierten Passage einen versöhnlichen Ton.

1903  −  Russells „Principles of Mathematics“

 In seinen „Principles of Mathematics“ diskutiert Bertrand Russell in Kapitel X „The Contradiction“ die heute nach ihm benannte Paradoxie. Sie zeigt, dass das volle Komprehensionsschema inkonsistent ist. Eine inkonsistente Instanz des Schemas ist die „Russell-Klasse“

R  =  { x | x  ∉  x }

Zermelo hat diese Paradoxie unabhängig von Russell entdeckt [ Ebbinghaus 2007, p. 45f ].

 Im folgenden Kapitel XI „Definition of Cardinal Numbers“ kritisiert Russell „definitions by abstraction“ wie sie in den Schriften von Peano zu finden sind (vgl. [ Scholz / Schweitzer 1935, p. 35f ] zu Peanos Definitionen durch Abstraktion). Russell schlägt vor:

Russell (1903):

„The other remedy is more practicable, and applies to all the cases in which Peano employs definition by abstraction. This method is, to define as the number of a class the class of all classes similar to the given class. Membership of this class of classes (considered as a predicate) is a common property of all the similar classes and of no others; moreover every class of the set of similar classes has to the set a relation which it has to nothing else, and which every class has to its own set. Thus the [ above ] conditions are completely fulfilled by this class of classes, and it has the merit of being determinate when a class is given, and of being different for two classes which are not similar. This, then, is an irreproachable definition of the number of a class in purely logical terms.“ [ Russell 1903, p. 115 ]

Dies ist die Frege-Russell-Definition einer Kardinalzahl (deren Idee, wir oben bei Cantors Verweis auf Ueberweg gesehen haben, schon länger im Umlauf war). Für eine beliebige Menge setzen wir

|M|FR  =  { N | |N| = |M| }.

In ZFC ist die Klasse |M|FR in allen nichttrivialen Fällen echt (für M = ∅ ist |M|FR = { ∅ }). Denn für M ≠ ∅ hat die Klasse Elemente beliebig mit beliebig hohem Rang in der von Neumann Hierarchie, sodass sie keine Menge ist. Tatsächlich genügen das Paarmengenaxiom, das Aussonderungsschema und das Vereinigungsaxiom,u m zu zeigen, dass die Frege-Russell Kardinalzahl Eins nicht existiert, d.h.

E  =  { { x } | x = x }

ist kein Objekt der Theorie. (Hier um im Folgenden bedeutet „{ x | φ(x) } existiert“: ∃y ∀x (x  ∈  y  φ(x)).) Denn andernfalls würde

R  =  ⋃ { { x }  ∈  E | x  ∉  x }

nach Aussonderung und Vereinigung existieren. Da das Paarmengenaxiom für alle x die Existenz der Einermenge { x } garantiert, folgt

R  =  { x | x  ∉  x }

Aber die Russell-Klasse { x | x  ∉  x } existiert in keiner Axiomatik der  ∈ -Sprache (sie ist rein logisch).

 Ironischerweise können wir also gegen Russells Selbstbewertung einer „irreproachable definition of a cardinal“ doch einen logischen Einwand vorbringen: Sie ist inkonsistent, wie durch Russells logisch einwandfreie Analyse der Komprehension gezeigt wird. Die Probleme der Russell-Frege-Definition wurden bereits 1905 von Hausdorff in seiner Rezension der „Principles“ angesprochen [ Hausdorff 1905 ]. Russell hat später siene Typentheorie verwendet, um die Widersprüche seiner Kardinalzahldefinition zu vermeiden.

 Die Russell-Frege-Definition lässt sich in der modernen Mengenlehre durch Scotts Trunkierungsmethode interpretieren: Echte Klassen können mit Hilfe der von Neumann-Hierarchie uniform zu Mengen zurückgeschnitten werden. Das Heilmittel von Frege-Russell zum formal untadeligen Umgang mit allerlei Abstraktionen funktioniert, aber nur in einer verfeinerten Version innerhalb eines einigermaßen starken axiomatischen Rahmens. Es steht auch diesem Ansatz − wie den Cantorschen Kardinalzahlen − zu, erst entdeckt und untersucht und erst später präzisiert bzw. repariert zu werden. Die Bewertung der Untadeligkeit sollte man aber vielleicht besser anderen überlassen.