Die Sprache der Mathematik
Junktoren und Grundaussagen A0, A1, A2, … reichen für die Bedürfnisse der Mathematik nicht aus. Um zu sehen, wie weit der aussagenlogische Ansatz reicht, setzen wir An = „n ist eine Primzahl“. Dann bedeutet zum Beispiel An ∧ An + 2, dass n ein Primzahlzwilling ist. Aber schon die Formulierung einer so einfachen Behauptung wie „Der Nachfolger jeder Primzahl ungleich 2 ist keine Primzahl.“ bereitet Schwierigkeiten: Die Aussage An → ¬ An + 1 berücksichtigt die Zahl 2 nicht, und zudem haben wir nicht zum Ausdruck gebracht, dass wir über alle Primzahlen ungleich 2 etwas behaupten. Symbolisch können wir schreiben:
(A3 → ¬ A4) ∧ (A4 → ¬ A5) ∧ (A5 → ¬ A6) ∧ … ,
aber dieser Ausdruck ist unendlich lang und wirft dadurch ganz neue Fragen und Probleme auf. Ebenso benötigen wir einen unendlich langen Ausdruck, um zu formulieren, dass es beliebig große Primzahlen gibt. Auch eine andere Wahl von Grundaussagen An löst diese Probleme nicht. Wir müssen also unsere Sprache substantiell erweitern.
Eine Betrachtung von allgemeinen mathematischen Aussagen zeigt, dass die Mathematik neben den aussagenlogischen Junktoren noch die folgenden Sprachelemente benötigt:
(a) | Quantoren wie „für alle“, „es gibt (mindestens) ein“, „es gibt genau ein“, … |
(b) | Variablen wie a, b, c, … x, y, z, A, B, C, … |
(c) | Funktionen wie +, ·, ∘, , sin, … |
(d) | Relationen wie =, <, ≤, „kongruent“, „prim“, „Element von“, … |
(e) | Konstanten wie 0, 1, 2, e, π, … |
Mit Hilfe von Quantoren, Variablen, Funktionen, Relationen und Konstanten kann, wie die Erfahrung zeigt, im Zusammenspiel mit den Junktoren jede mathematische Aussage ausgedrückt und dadurch präzisiert werden. Wir betrachten hierzu einige Beispiele für typische mathematische Aussagen:
(i) | Die reelle Funktion f ist periodisch. |
(ii) | n ist eine Primzahl. |
(iii) | Es gibt unendlich viele Primzahlen. |
(iv) | Die Funktion ∘ ist nicht kommutativ. |
Diese Aussagen können wir in der Quantorensprache schreiben als:
(i) | Es gibt ein a ≠ 0, sodass für alle x gilt: f (x) = f(x + a). |
(ii) | n ist größer als 1 und für alle a, b gilt: Ist a · b = n, so ist a = 1 oder b = 1. |
(iii) | Für alle m gibt es ein n mit: n ist größer als m und n ist eine Primzahl. |
(iv) | Es gibt x, y mit: x ∘ y ≠ y ∘ x. |
Schreiben wir symbolisch ∀ für „für alle“ und ∃ für „es gibt (mindestens) ein“, so können wir diese Aussagen formal schreiben als
(i) | ∃a (a ≠ 0 ∧ ∀x (f (x) = f (x + a))). |
(ii) | n > 1 ∧ ∀a, b (a · b = n → a = 1 ∨ b = 1). |
(iii) | ∀m ∃n (n > m ∧ n ist eine Primzahl). |
(iv) | ∃x, y (x ∘ y ≠ y ∘ x). |
Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Man kann sogar umgekehrt fordern: Eine Aussage gilt nur dann als mathematisch präzise, wenn sie sich in der Quantorensprache formulieren lässt.
Die genaue Definition der Quantorensprache ist Aufgabe der mathematischen Logik. Wir begnügen uns hier mit beschreibenden Ausführungen, die vor allem den Umgang mit Quantoren illustrieren sollen. Funktionen und Relationen werden wir später noch eingehend betrachten, für jetzt genügt ein naives Verständnis dieser Dinge. Auch auf Fragen nach der Gültigkeit oder Beweisbarkeit von Aussagen können wir hier nicht weiter eingehen. Betonen möchten wir aber, dass ein Analogon zum Wahrheitstafelverfahren für die Quantorensprache nicht mehr zur Verfügung steht. Aussagen dieser Sprache lassen sich nicht mehr mechanisch beweisen! Dagegen kann das argumentative Beweisen durch eine Erweiterung der Schlussregeln (S1) − (S7) eingefangen und präzisiert werden. Diese Schlussregeln spiegeln dann genau das Argumentieren wider, das bei der Beweisführung mathematischer Sätze allerorts verwendet wird.
Die beiden oben schon verwendeten Quantoren „für alle“ und „es gibt ein“ stehen im Zentrum des Interesses. Sie beziehen sich auf einen kontextabhängigen Bereich, etwa die natürlichen oder die reellen Zahlen. Quantifiziert wird dabei mit Hilfe von Variablen:
(i) | „für alle x gilt die Eigenschaft A(x)“, | in Zeichen: ∀x A(x), |
(ii) | „es gibt ein y mit der Eigenschaft A(y)“, | in Zeichen: ∃y A(y). |
Mehrere aufeinander folgende Allquantoren können wir beliebig vertauschen, denn ∀x ∀y A(x, y) ist äquivalent zu ∀y ∀x A(x, y). Wir verwenden in einer solchen Situation auch die Schreibweise ∀x, y A(x, y). Analoges gilt für den Existenzquantor. Dagegen dürfen gemischte All- und Existenzquantoren in der Regel nicht vertauscht werden. Wir betrachten hierzu für eine Eigenschaft A(x, y) die beiden Aussagen:
∀x ∃y A(x, y) und ∃y ∀x A(x, y).
Die zweite Aussage impliziert die erste, aber die Umkehrung ist i. A. falsch. Die erste Aussage behauptet, dass es für jedes x ein „gutes“ y gibt. Dieses y hängt i. A. von x ab. Die zweite Aussage behauptet viel stärker, dass es ein y gibt, welches für alle x „gut“ ist.
Zwischen den beiden Quantoren bestehen die folgenden Zusammenhänge:
¬ ∃x A(x) ist gleichwertig zu ∀x ¬ A(x),
¬ ∀x A(x) ist gleichwertig zu ∃x ¬ A(x). (Verneinungsregeln für Quantoren)
Damit kann man, im Sinne der Reduktion von Problemen, den Existenzquantor durch den Allquantor definieren oder umgekehrt.
Wiederholte Anwendung der Verneinungsregeln liefert z. B.:
¬ ∀x ∃y ∀z A(x, y, z) ist gleichwertig zu ∃x ∀y ∃z ¬ A(x, y, z).
Allgemein kann man eine Negation in eine komplexe Aussage hineinziehen, wenn man dabei All- und Existenzquantoren vertauscht.
Andere Quantoren wie zum Beispiel „es gibt genau ein x“ lassen sich mit Hilfe des All- und Existenzquantors ausdrücken (siehe Übungen). Als Zeichen für „es gibt genau ein“ ist zuweilen ∃! zu finden. So bringt zum Beispiel ∃!x (f (x) = 0) zum Ausdruck, dass die Funktion f eine eindeutige Nullstelle besitzt. Für weitere Quantoren wie „es gibt genau zwei“ haben sich keine Zeichen durchgesetzt, man schreibt derartige Quantoren bei Bedarf umgangssprachlich aus.
Prinzipiell können beliebige Symbole als Variable verwendet werden. Jedoch suggeriert der Kontext oft eine Zeichenwahl. So werden z. B. n, m bevorzugt für die natürlichen Zahlen eingesetzt, x, y, z bevorzugt für die reellen Zahlen, i, j bevorzugt als Indexvariable, usw.
Ebenso sind die Funktionen, Relationen und Konstanten kontextabhängig. Die Addition + bedeutet im Kontext der natürlichen Zahlen etwas anderes als im Kontext eines Vektorraumes. Eine Ausnahme bildet die Gleichheit =, die in jedem Kontext die Identität bedeutet. Die Verschiedenheit x ≠ y zweier Objekte ist definiert als ¬ (x = y).
Bei der Untersuchung eines Objektbereichs werden ständig neue Funktionen, Relationen und Konstanten der Sprache hinzugefügt, unter Befolgung der Maxime „Definiere Neues aus Altem“. Die Zahlentheorie kann zum Beispiel mit der Addition und der Multiplikation als Funktionen, sowie Konstanten 0 und 1 auf ihrem Objektbereich beginnen. Nun können die Relationen „n ist kleiner als m“, in Zeichen n < m, sowie „m ist ein Teiler von n“, in Zeichen m|n, eingeführt werden durch
n < m | wird definiert als ∃k (k ≠ 0 ∧ n + k = m), |
m | n | wird definiert als ∃k (m · k = n). |
Die Bedeutung, Gültigkeit und Beweisbarkeit von Aussagen ist kontextabhängig. Im Kontext der rationalen Zahlen bedeutet zum Beispiel die Aussage
∀x, y (x < y → ∃z (x < z ∧ z < y)),
dass zwischen je zwei rationalen Zahlen immer noch eine weitere rationale Zahl liegt. Diese Aussage ist für die rationalen Zahlen beweisbar, im Kontext der ganzen Zahlen ist sie dagegen falsch, da hier z. B. ¬ ∃z (0 < z ∧ z < 1) gilt.
Wir haben damit das Grundgerüst der heutigen mathematischen Sprache vollständig zusammengetragen. Diese Sprache ist eine Quantorensprache, die die reine Aussagenlogik substantiell erweitert. Kontextabhängig werden Relationen, Funktionen und Konstanten eingeführt und untersucht. Das Einführen neuer Begriffe hat einen hierarchischen Charakter, indem die Definition eines neuen Objekts auf bereits definierte Objekte zurückgreift. Was man nun als nicht weiter definierte, nur mit Hilfe von Axiomen beschriebene Grundbegriffe ansieht, ist eine Frage der Ziele, die man verfolgt, und auch eine Frage, welchen Grad an Präzision man letztendlich erreichen möchte. Die Mathematik hat über Jahrhunderte mit Zahlen und geometrischen Figuren gearbeitet, ohne sie genau zu definieren. Das funktionierte und funktioniert auch heute noch sehr gut, da man in Beweisen immer nur bestimmte Eigenschaften der Grundobjekte verwendet, auf die man sich einigen kann, ohne die Grundobjekte genau zu definieren. Dennoch strebt die Mathematik nach höchster Genauigkeit, und speziell bei ihrem heutigen selbstbewussten Umgang mit unendlichen Objekten ist eine Klärung der Fundamente unumgänglich, um ein gewisses Vertrauen in die Widerspruchsfreiheit des gesamten Systems etablieren zu können. Hier spielt nun eine ausgezeichnete Grundrelation die herausragende Rolle, nämlich die Elementbeziehung „x ist ein Element der Menge y“. Die Sprache der modernen Mathematik ist mengentheoretisch geprägt, und man kann sogar die gesamte Mathematik aus der Mengenlehre heraus aufbauen. Den wichtigsten mengentheoretischen Begriffen, die heute in der wissenschaftlichen Mathematik überall verwendet werden, widmet sich das nächste Kapitel.