Obere Schranken und Suprema
Der Körper ℚ der rationalen Zahlen sieht auf den ersten Blick wie ein hervorragendes Modell eines arithmetischen mathematischen Kontinuums aus. Dieser Eindruck entsteht vor allem aufgrund der Eigenschaft der Dichtheit und der Existenz beliebig kleiner Größen: Für alle q < p existiert ein r mit q < r < p, und für alle n gilt 1/n · n = 1. Wir können also das Intervall von 0 bis 1 in beliebig feine Teile zerlegen. Welche Punkte eines Kontinuums sollen hier noch fehlen?
Der Schein trügt, und dass er trügt, ist eine tiefe Erkenntnis der griechischen Mathematik: Es gibt irrationale Zahlen. Die rationalen Zahlen reichen nicht aus, um ein mathematisches Kontinuum zu modellieren. Wir werden im Kapitel über Zahlentheorie das klassische Argument kennen lernen. Hier verfolgen wir einen modernen Gedanken, der die Schwächen der rationalen Zahlen aufdeckt und der de facto viel stärker zeigt, dass den rationalen Zahlen noch „fast alle“ Punkte fehlen, um etwas zu bilden, was wir als Kontinuum ansehen.
Der Begriff eines Kontinuums lässt sich in der Sprache der linearen Ordnungen beschreiben. Hierzu führen wir noch einige weitere Begriffe über lineare Ordnungen ein.
Definition (beschränkt, obere und untere Schranke)
Sei (M, ≤) eine lineare Ordnung. Ein X ⊆ M heißt nach oben beschränkt, falls ein s ∈ M existiert, sodass x ≤ s für alle x ∈ X gilt. Jedes derartige s heißt dann eine obere Schranke von X in M.
Analog sind die Begriffe nach unten beschränkt und untere Schranke von X definiert. Ein X heißt beschränkt (schlechthin), falls X sowohl nach oben als auch nach unten beschränkt ist.
Ist X eine beschränkte Menge von Punkten eines anschaulichen Linearkontinuums (eine stetige Linie), so können wir eine beliebige obere Schranke s von X so weit zur Menge hinschieben, bis sie die Menge X berührt. Von einem Kontinuum erwarten wir, dass es diesen Berührpunkt tatsächlich gibt. Analoges gilt für untere Schranken. Wir können diese Berührpunkte leicht formal definieren:
Definition (Supremum, Infimum)
Sei (M, ≤) eine lineare Ordnung, und sei X ⊆ M. Existiert eine kleinste obere Schranke s* von X, so heißt diese das Supremum von X, in Zeichen
s* = sup(X).
Existiert eine größte untere Schranke s′ von X, so heißt diese das Infimum von X, in Zeichen s′ = inf (X).
Es gilt also s* = sup(X) genau dann, wenn gilt:
(a) | s* ist eine obere Schranke von X. |
(b) | Ist s eine obere Schranke von X, so ist s* ≤ s. |