Das Vollständigkeitsaxiom
Wir können nun unser letztes Axiom formulieren, das die Lücken der rationalen Zahlen schließt:
(K16) | Jede nichtleere und nach oben beschränkte Teilmenge von K besitzt ein Supremum in K. | lineare Vollständigkeit |
Ein angeordneter Körper K heißt vollständig, falls er das Axiom (K16) erfüllt. Man kann zeigen:
Satz (Charakterisierung der reellen Zahlen)
Es gibt einen bis auf die Namen der Elemente eindeutig bestimmten vollständig angeordneten Körper.
Wir wählen einen im Wesentlichen eindeutigen derartigen Körper und bezeichnen ihn mit (ℝ, +, ·, 0, 1, <) oder kurz ℝ. Er heißt Körper der reellen Zahlen. In ℝ können wir wie in ℚ rechnen, es gelten alle vertrauten Rechenregeln. Der Körper ℝ enthält aber wesentlich mehr Zahlen als ℚ. Er hat sich als Modell für ein arithmetisches Linearkontinuum und damit als Grundlage der Analysis bewährt.
Könnte es nicht noch mehr Zahlen auf einer Linie geben? In der Geschichte der Analysis ist häufig von infinitesimalen Größen die Rede. Die Disziplin wird auch als Infinitesimalrechnung bezeichnet und sie verwendet bis heute Bezeichnung wie „dx“ und „dx/dy“ für unendlich kleine Größen. Das Vollständigkeitsaxiom schließt derartige Größen aus, denn es impliziert den folgenden Satz:
Satz (Archimedisches Axiom)
Seien x, y > 0. Dann gibt es ein n ∈ ℕ mit n x > y.
Bemerkung
Es gibt äquivalente Charakterisierungen der reellen Zahlen, in denen die Aussage des Satzes als Axiom verwendet wird. Dies erklärt die traditionelle Bezeichnung als Axiom.
Für den Spezialfall x = 1 zeigt das Archimedische Axiom, dass ℕ nach oben unbeschränkt in ℝ ist. Damit gibt es keine unendlich kleinen positiven Größen, d. h. Zahlen x mit 0 < x < 1/n für alle n ∈ ℕ*. Denn sonst wäre n < 1/x für alle n ≥ 1, also 1/x eine obere Schranke für ℕ. Es gilt also inf({ 1/n | n ≥ 1 }) = 0.
Es ist eine gewisse Ironie der Geschichte, dass die Infinitesimalrechnung ohne infinitesimale Größen auskommt. Der Körper ℝ genügt. Im 20. Jahrhundert ist es gelungen, nichtarchimedische Körper zu konstruieren, in denen sich eine echte infinitesimale Analysis betreiben lässt (die sog. Nichtstandard-Analysis). Das lineare Vollständigkeitsaxiom gilt in diesen Körpern nicht.